Die Grundlage des deutschen Fußballs ist die multikulturelle Gesellschaft. Dieses Aushängeschild gilt es nun über die temporäre Festivalisierung hinaus nachhaltig politisch zu gestalten. Ein Plädoyer für die Verstetigung des Diskurses.
Das erste Spiel der deutschen Mannschaft bei der Europameisterschaft in Frankreich ist absolviert. Neben der fußballerischen Auftaktveranstaltung für die sportliche Abteilung des DFB war es auch das Debut für die regelmäßig zum Turnier neu zusammengestellte Fanszene, die ob der zu erwartendenden Unterhaltung sich freudig vor den zahlreichen Leinwänden, Flachbildschirmen und Röhrenfernsehern versammelt. Das wichtigste vorweg: Man kann sich glücklich schätzen, dass es zu keinen gewalttätigen Eskapaden dubioser Trittbrettfahrer gekommen ist, die sich von den absurden Szenen vom Samstag aus Marseille inspiriert fühlen könnten, wo Hooligans und Schläger aus England und Russland sich zum Happening der Fäuste veranlasst fühlten und die mediale Aufmerksamkeit sichtlich genossen. Die Konzentration aufs Sportliche war durchweg möglich. Der Fußball stand im Vordergrund und bot zumindest zeitweise ansehnliche Momente dar.
Die bedeutendste Erkenntnis abseits der erzielten drei Punkte ist: Das erste Spiel der deutschen Mannschaft wird in der heutigen Nachbetrachtung zu einer politischen Aussage. Das Gezwitscher bei Twitter schwoll über an Lobeshymnen auf die nachbarschaftliche Rettungstat von Jerome Boateng. Zahlreiche Politiker verwiesen darüber hinaus auf die sportlichen Vorteile, die sich durch die Präsenz von Shkodran Mustafi, Mesut Özil und Sami Khedira in der deutschen Nationalmannschaft ergeben und neckten ihren Kontrahenten Gauland von der AfD, dessen fußballerische Auswahl auf Basis der Namensgebung wohl verloren hätte. Besonders spannend war dann eben auch die Aussage Joachim Löws, der bei der Pressekonferenz nach dem Spiel ebenfalss betonte, dass es eben gut sei, Jerome Boateng als Nachbar … in der Abwehrreihe zu haben.
Dies alles steht dafür, dass Gauland mit seiner Äußerung das Tor zur gesellschaftlichen Debatte weit aufgestoßen hat. Eine hetzerische Aussage wird so zur integrativen Kraft. Die provokante Aussage Gaulands hat zu einem Denkprozess gegen den alltäglichen Rassismus angestoßen und wird nun durch die mediale Inszenierung des Europameisterschaftsturniers mit größtmöglicher Aufmerksamkeit moderiert. Die EM hat mit den Ausschreitungen von Marseille zwar auch schon sein erstes Schreckensbild erstellt, ist aber gleichzeitig zumindest für die deutsche Gesellschaft eine großartige Gelegenheit den Kampf gegen Vorurteile zu kollektivieren. Dafür hilft, dass sich auf einmal wieder Bevölkerungskreise für Fußball interessieren, die ansonsten durch einen Satz Auswärtstrikots der deutschen Elf irritiert sind.
Der Fußball fungiert auf einmal wieder als Brennglas gesellschaftlicher Transformationsprozesse – auch dank der unbedarften Äußerungen der AfD in den letzten Monaten. Der Diskurs ist breitenwirksam eröffnet. Die Momente der geteilten Freude können als Grundlage einer modernisierten Gemeinschaft funktionieren, dafür müssten „lediglich“ die Werte, die im Umfeld der Nationalmannschaft im Rahmen der EM vor sich hergetragen werden auf den Alltag übetragen werden. Der Kampf gegen Verallgemeinerungen zugunsten einer differenzierten Betrachtung, Gleichberechtigung statt Stigmatisierung, Öffnung statt Abgrenzung – es gibt viele Werte des Sports, die grundsätzlich Basis gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Das TV-Ereignis EM versammelt wieder die unterscheidlichsten Menschen um den Fußball und dieser bietet daher in diesen Wochen erneut die Chance für einen gesamtgesellschaftlichen Reflexionsprozess. Hoffen wir, dass die Lehren, die bei Twitter positioniert werden, sich auch in den kommenden politischen Wahlkämpfen und Wahlergebnissen auswirken.
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