Das PANENKA EM-Stübchen hat seine Feuerprobe bestanden. Das erste Wochenende gefüllt mit einem Fußballfestprogramm wurde im Hinterstübchen der Bar „Sieben“ am Ostkreuz freudig gemütlich begangen. Die kleine Fußball-Ausstellung wurde positiv aufgenommen und bietet einen schönen Rahmen für den fußballaffinen Small-Talk. Bei der gestrigen Partie der Italiener gegen die Belgier entpuppte sich ein älterer Herr als weiser Begleiter der Fußball-Historie.
Es lief die 38. Minute des Vorrundenspiels zwischen Belgien und Italien, als sich ein ergrauter Mann dem Röhrenfernseher annäherte und der kleinen Runde im Stübchen die eine entscheidende Frage stellte: „Wie stehts?“ Die Führung der Italiener quittierte der Mann Mitte 70 mit einem konsequenten: „Na dann ist es ja gelaufen. Da könnt ihr jetzt den Fernseher abschalten.“ Kurz darauf widmete er sich wieder seinem Irish Coffee und holte sich erst gegen Ende die Bestätigung seiner Theorie ab. Die Belgier vermochten es nicht, der Führung der italienischen Nationalmannschaft etwas entgegenzusetzen.
Es ist eine jener Aussagen, die gleichzeitig Klischee und Wahrheit sind. Die italienische Fußballkultur ist berühmt berüchtigt für die taktische Ausgereiftheit des Abwehrverhaltens. Seit Jahrzehnten blicken die europäischen Konkurrenten verwundert über die Alpen, um das Geheimnis der italienischen Defensiv-Strategen zu ergründen. Wie vermögen es diese (Achtung Stereotyp) heißblütigen lebenslustigen Italiener über Jahrzehnte und Generationen hinweg ein derart ausgeklügeltes Defensiv-Konzept so zu vollführen und weiterzugeben, als wäre Omas Pasta-Rezept.
Sinnbild dieses Spielstils der alten Herren ist der Mythos des Catenaccio. Das perfide spielzerstörerische Abwehrkonzept des „Türriegels“, welches eine tiefstehende Abwehrreihe mit einer engen Staffelung des Mittelfelds kombiniert. Gleichwohl bietet der Catenaccio durch die asymmetrische Formation die Möglichkeit des schnellen Konters – Resultat dessen ist die Verzweiflung des Gegners, der sich an der kompakten Formation die Zähne ausbeißt. Entwickelt wurde das Konzept vom Österreicher Karl Rappan, der die Formation erfolgreich mit der Schweizer Nationalmannschaft und Grasshoppers Zürich in den 1930er Jahren praktizierte. Damals noch als Schweizer Türriegel bekannt, wurde in den 1960er Jahren der Spielstil durch den Argentinier Helenio Herrera bei Inter Mailand angewendet. Der Erfolg gab dem Trainer Recht. Inter gewann drei Meistertitel sowie zweimal den Europapokal der Landesmeister und einmal den Weltpokal. Fortan war der italienische Fußball aufs engste mit der Kultur des Catenaccio assoziiert und jedes ausgeklügelte Defensivkonzept, welches tendenziell destruktiv war als Ausgeburt des Catenaccio verpönt.
Die abgezockte Spielweise italienischer Mannschaften in der Fußball-Historie wird dementsprechend als Fetisch dieses historischen Spielsystems gedeutet. Die Beständigkeit dieses Spielstils der abgezockten Abwehrrecken fasziniert den gemeinen Fußball-Fan und ist dabei wohl Ergebnis einer geringen Fluktuation in der italienischen Mannschaft. Gefühlt spielt jeder Italiener auf Top-Niveau 15 bis 20 Jahre für die Squadra Azzura. Franco Baresi, Paolo Maldini, Roberto Baggio, Fabio Cannavaro, Gianluigi Buffon, Andrea Pirlo, Alessandro del Piero… Unzählige weitere haben diese Mannschaft über Jahre geprägt und trotzten dem hohen Alter. In Deutschland enden Fußballer-Karrieren gerne mal mit 33, in Italien fangen die Recken dann erst so richtig an zu glänzen. Nicht umsonst wurde Andrea Pirlo weltweit für seine Auftritte bei der letzten WM gefeiert. Das „hohe“ Alter des Spielgestalters spielte eher eine unterstützende Rolle im Hinblick auf die Spielübersicht und die Präzision der gespielten Bälle. Pirlo wurde zum Inbegriff der Fußball-Komposition und steht gleichsam in der Tradition großartiger italienischer Fußballer. Erfahrung und Konzept vereint in blauen Trikots – ein Erfolgsrezept, das seit Generationen funktioniert. Die aktuelle italienische Auswahl hat ein Durchschnittsalter von 31 Jahren. Erneut werden die Kontrahenten mit überbordender Fußball-Erfahrung konfrontiert.
Noch können wir es nicht abschätzen, wie das Turnier letztendlich verlaufen wird, aber die Italiener werden wie gewohnt eine ordentliche Rolle spielen. Der weise Mann wird Recht behalten. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel, aber in 40 Jahren werden wir zu diesen alten Herren gehören, die friedlich an einem Irish Coffee nippen und augenzwinkernd abwinken aufgrund der Berechenbarkeit des Spiels.
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