Portugal hat sich im Finale der Europameisterschaft 2016 gegen Frankreich durchgesetzt und trotz aller Unkenrufe alle Konkurrenten hinter sich gelassen. So richtig verstehen kann dies außerhalb Portugals wohl niemand, da die Mannschaft den in sie gestellten Erwartungen eigentlich nie gerecht wurde. Festzustellen ist jedenfalls der größte Erfolg der Verbandsgeschichte, der der Mannschaft heute einen Empfang beim portugiesischen Staatspräsidenten eingebrockt hat. Eine neue goldene Generation hat ihre Lehren gezogen aus einem traumatischen Erlebnis.
Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive gewinnt Turniere. Portugal hat das Kunststück vollbracht unter Verzicht auf Offensivfußball und Siegesgefühle Europameister zu werden. Das Momentum der Verlängerung nutzten die Portugiesen derweil derart konsequent, dass angesichts der vermeintlichen destruktiven Spielweise Erinnerungen wieder wach wurden an ein Turnier, das Portugal heute noch weh tut: Die Europameisterschaft 2004 holte die Fußballwelt in den letzten Wochen wieder ein. Damals war unter portugiesischer Sonne nahezu Unheimliches passiert, als von Runde zu Runde ein Favorit nach dem anderen das Handtuch werfen musste und der vermeintliche Fußballzwerg Griechenland mit schnödem Ergebnisfußball sich den Europameisterschaftstitel sicherten. Niemand wusste so recht, wie dies passieren konnte, insbesondere die portugiesische Nationalelf nicht, die im eigenen Land ihre goldene Generation verewigen wollte.
Jedoch setzten die Griechen im Finale gegen den Gastgeber Portugal auf ein taktisch ausgereiftes Defensivkonzept, an dem sich die europäischen Brasilianer von damals ihre Zähne ausbeißen sollten. Mit geschlossenen Reihen ließen sie die ballverliebten Mannen um Luis Figo, Rui Costa und den damals 19jährigen Cristiano Ronaldo um den Strafraum herumkombinieren, ohne ihnen auch nur einen Meter Raumgewinn zu gewähren. Im Zweifelsfall wurde dann auch gerne mal die gute alte Grätsche ausgepackt, um die Spielfreude des Kontrahenten vollends einzudämmen. Es war eine Taktik der Nadelstiche, die die griechische Nationalelf von Otto Rehhagel im Turnierverlauf als eigenes Erfolgsrezept ausgemacht hatte. Runde für Runde spielten sich die Gegner an den Abwehrketten Griechenlands müde, nur um dann nach einem erfolgreichen Konter oder einer Ecke der Griechen mit 0:1 nach Hause geschickt zu werden.
Damals machte hauptsächlich ein gewisser Angelos Charisteas die Tore für Griechenland und stieg als EM-Held innerhalb von vier Wochen vom Status eine mittelklassigen Stürmers zum Status einer Legende auf. Fortan war Charisteas ein relativ gefragter Mann auf dem Transfermarkt, konnte aber an die Glückssträhne des damaligen Turniers nie wieder anknüpfen. Für Portugal wurde aber eben jener Angelos Charisteas zum Schreckgespenst einer ganzen fußballerischen Generation. Ein Trauma von Lissabon, welche angesichts der scheinbar einmaligen Gelegenheit den Fado noch melancholischer und schmerzerfüllter wirken ließ.
Wie so oft im Leben lässt sich ein Trauma lediglich mit der Konfrontation beheben. Alternativ kann man natürlich auch den Fluch einfach übertragen und so wirkte es fast wie ein Wink des Schicksals, dass Portugal mit eigentlich widersprüchlichem Fußball das Finale gegen die gastgebende Nation erreichte. Und dabei ausgerechnet lediglich aufgrund eines absurden Turnier-Modus, der es einer Mannschaft wie Portugal trotz mäßiger Leistungen, dreier Remis und einem dritten Platz in der Vierergruppe mit Ungarn, Island und Österreich ermöglicht hat, überhaupt an der entscheidenden Turnierphase teilzunehmen. Ein Modus, der maßgeblich durch Michel Platini durchgesetzt wurde. Eventuell galten die Pfiffe im weiten Rund des Stade de France nach dem Spiel, als sein Konterfei auf der Leinwand eingeblendet wurde, auch dieser rückblickend schlechten Idee.
Nun musste also erneut ein Gastgeber im Finale gegen einen vermeintlichen Außenseiter dran glauben. Eigentlich gebürt den Portugiesen der Status des Underdog nicht, aber so wie sie sich präseniert haben, war der historische Erfolg vom 10. Juli 2016 dennoch für viele eine Überraschung. „Es ist mir egal, wie es aussieht. Wir stehen im Finale“ kommentierte der portugiesische Trainer Fernando Santos entsprechend mürrisch auf die griesgrämigen Bewertungen der interessierten Fußball-Öffentlichkeit. Nun kann er mit noch breiterer Brust sein Erfolgsrezept verteidigen und in nur wenigen Monaten interessiert es keinen mehr, wie sich die Portugiesen durchgesetzt haben. In der historischen Betrachtung ist und bleibt der Fußball ein Ergebnissport – trotz aller Inszenierung.
Wenn man so will, war die Verletzung Ronaldos ein Glücksfall für den portugiesischen Fußball. Die Mannschaft konnte ihre Durchsetzungskraft beweisen und Ronaldo konnte sein Image aufpolieren. Zum großen EM-Held wurde nun Éderzito António Macedo Lopes, genannt Eder, der in der 109. Minute den entscheidenden Ball einnetzte. Ein Spieler, der im letzten Jahr für den OSC Lille und Swansea City mehr oder weniger bescheiden spielte und kaum Einsatzzeiten sammeln konnte. Ein neuer portugiesischer Angelos Charisteas, der wohl nun ein heißes Eisen in der laufenden Transfer-Periode wird. So verrückt ist das Geschäft nunmal. Die Überraschung, die Verletzung, der Unbekannte: die Kombination ergibt eine nun plötzlich gönnerhafte Medienlandschaft, die der Verwunderung über den Turnierverlauf zum Trotz auf einmal zu großen Teilen aus Ronaldo-Fans besteht. Die polarisierte Meinungsbildung bezüglich seiner Person schreitet unweigerlich voran, wobei der Opportunismus doch stark hervorsticht.
Nach vier Wochen Europameisterschaft haben gestern jedoch die meisten müde abgeschaltet und die Lust auf Verlängerung eines Finals war noch nie so gering wie gestern abend. Die Verwässerung des Fußballs schlägt zu Buche und konnte lediglich durch eine künstliche Aufbauschung und Karnevalisierung relativiert werden. Die gehobene Langeweile hat nun seine finale Entsprechung gefunden. Das Turnier hat den Sieger, den es verdient hat. Glückwunsch Portugal zu diesem glücklichen Moment, der die Wunden von 2004 ansatzeweise heilt. Der Erfolg wird auf ewig mit einer verqueren Europameisterschaft der Zeitverschwendung verbunden sein, dessen Highlights und Aufreger fernab der Plätze stattfanden.
Axel Diehlmann
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