Der Halbfinalfluch der Gastgeber

Avatar von Björn Leffler

Brasilien hat es wohl am schlimmsten erwischt. Das 1:7 gegen die deutsche Nationalmannschaft im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2014 im legendären Maracana hat den gesamten brasilianischen Fußball nachhaltig in eine Sinnkrise gestürzt. Neben den Brasilianern gab es aber noch weitere Gastgebernationen großer Turniere, die ihrem triumphierenden Kontrahenten gleichsam oftmals den Weg zum Titel ebneten, als sei es ein gutes Omen im Halbfinale den Gastgeber zu eliminieren. Stimmt dieser Eindruck? Wie verhält es sich mit dem Heimvorteil? Fluch oder Segen? Eine kleine Analyse…

Der Heimvorteil ist eine mythisch aufgeladene Bastion des Fußballs. Die Fans im Rücken, die klimatischen Bedingungen gewohnt, die Abläufe wie regulär. Mannschaften, die in heimischen Gefilden auftreten, spielen für gewöhnlich mit mehr Selbstbewusstsein auf und können in den entscheidenden Momenten auf die Unterstützung von den Tribünen hoffen. Die Spiele werden in der heimischen Arena an sich gerissen wie die Fernbedienung auf der Couch: es geht um Kontrolle, über sich, das Geschehen und den Kontrahenten. Durch die Fans auf den Tribünen wird der Gegner einer theatralen Inszenierung unterzogen, die ihn vor dem Spiel einschüchtern und während des Spiels verunsichern soll. In Anlehnung daran betont Prof. Dr. Daniel Memmert, Professor am Institut für Kognitions- und Sportspielforschung der Sporthochschule Köln: „Der Heimvorteil existiert ohne Zweifel. Ein wichtiger Faktor, der den Heimvorteil ausmacht, ist der Lärm der Zuschauer, denn dieser beeinflusst den Schiedsrichter.“ Der leidenschaftliche Support der Anhängerschaft wirkt sich folglich auf die situative Wahrnehmung der Schiedsrichter aus, die im Zweifelsfall vermehrt die Auswärtsmannschaft sanktionieren und einhergehend deren Spielfluss einschränken.  Statistisch betrachtet ergattern die Heimmannschaften in der Bundesliga mehr Punkte als die Auswärtsfahrer. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu den Gründerjahren der Bundesliga-Geschichte die Statistiken sich tendenziell angleichen, gibt es dennoch ein kontinuierlich ein Übergewicht des Heimvorteils.

Heimvorteil-Tabelle seit 2000
Rang Verein Heimvorteil*
1 Borussia M’gladbach 67,3%
2 SC Freiburg 64,0%
3 VfL Wolfsburg 62,5%
4 1. FC Köln 62,3%
5 Mainz 05 62,2%
6 1. FC Kaiserslautern 61,5%
7 Eintracht Frankfurt 61,2%
8 Hannover 96 61,1%
9 Hamburger SV 60,7%
10 1. FC Nürnberg 60,5%
11 FC Schalke 04 59,8%
12 SV Werder Bremen 59,5%
13 VfB Stuttgart 58,8%
14 Hertha BSC 58,6%
15 VfL Bochum 58,1%
16 Borussia Dortmund 57,5%
17 Bayern München 57,2%
18 1860 München 56,5%
19 Bayer Leverkusen 56,4%
*Wie viel Prozent der Gesamtpunkte holte ein Team zuhause
Quelle: http://www.spiegel.de/sport/fussball/heimvorteil-die-historische-datenanalyse-der-bundesliga-a-1068911.html

Absoluter Rekordhalter bezüglich der Punkteausbeute vor heimischer Kulisse ist der 1. FC Kaiserslautern, der in der Saison 1976/77 82,8 Prozent seiner Punkte am Betzenberg holte und ihnen das Gefühl der heimischen Unbezwingbarkeit verlieh. Auch wenn die Saison lediglich auf dem 13. Platz beendet wurde, so offenbarte sich dennoch eine enorme Diskrepanz zwischen den sportlichen Leistungen zuhause und auswärts. Der Betzenberg war trotz sportlicher Misere eine nahezu unbezwingabre Festung, die der Mannschaft besondere Qualitäten verlieh. Darauf konnte sich der 1. FC Kaiserslautern auch in den zwei darauf folgenden Jahrzehnten verlassen, die sie wieder in die Spitze des deutschen Fußballs führten, maßgeblich katalysiert durch die heimische Punkteausbeute. „Am besten schicken wir die Punkte gleich mit der Post dahin“, kommentierte Paul Breitner damals resignierend.

Was für den Liga-Betrieb gültig ist, lässt sich zwar mitnichten ohne weiteres auf die großen internationalen Turniere übertragen, aber auch hier sind Tendenzen erkennbar, die den Heimvorteil zwar aufzeigen, diesen dann aber gleichzeitig auch in seinem überbordenden Druckmoment offenbaren. Bei der derzeitigen Europameisterschaft in Frankreich haben die Franzosen den Hattrick der triumphierenden Gastgeber-Rolle in Angriff genommen. 1984 und 1998 gewann die Equipe Tricolore den Europameister- und Weltmeistertitel im eigenen Land. Durch einen etwaigen Titelgewinn könnten die Franzosen ihre heimischen Stadionkultur mit einer Bastille vergleichen, deren Sturm einer Revolution gleichkommen würde. Lediglich 1960 bei der erstmaligen Austragung des kontinentalen europäischen Turniers konnten die Franzosen in heimischen Gefilden den Titel nicht erringen. Damals scheiterten sie in der Vorschlussrunde an Jugoslawien und begründeten damit den Halbfinalfluch des Gastgebers.

Schon zwei Jahre später bei der Weltmeisterschaft 1962 in Chile sollte dieser die Chilenen heimsuchen, als sie am späteren Weltmeister Brasilien scheiterten. Vor 77.000 Zuschauern im Estadio Nacional Julio Martínez Prádanos von Santiago de Chile entschied die brasilianische Fußballlegende Garrincha fast im Alleingang das Spiel zugunsten der Selecao. Mit einem 2:4 verabschiedeten sich die Chilenen von ihrem Titeltraum, konnten drei Tage später aber zumindest noch den umjubelten dritten Platz gegen Jugolsawien erringen.

Nachdem 1964, 1966 und 1968 die gastgebenden Nationen (Spanien, England und Italien) sich die Krone vor heimischer Kulisse aufsetzen konnten, kehrte der Fluch 1972 zurück. Gerd Müller machte mit seinen zwei Treffern gegen amitionierte Belgier deren Finaltraum zunichte. Das letztendliche Aufbäumen zum 1:2 kam zu spät, Deutschland erreichte das Finale und errang gegen die UdSSR den Europameistertitel, während Belgien den dritten Platz einfuhr. Die damalige fußballerische Generation Deutschlands um Hoeness, Beckenbauer und Müller war auch gegen den Halbfinalfluch gefeit und konnte ihn sogar dennoch weiter wüten lassen. 1974 im eigenen Land wurde der Weltmeistertitel errungen und der Pokal an der Abreise aus dem Münchener Olympiastadion gehindert. Die selbe Mannschaft machte dann nur zwei Jahre später den Jugoslawen ihre Heim-Europameisterschaft zunichte – den Titel konnten sie jedoch nicht verteidigen. 1978 konnte Argentinien in bester propagandistischer Manier unter der Ägide der Militärdiktatur General Videlas den Halbfinalfluch besiegen und vor heimischer Kulisse den WM-Pokal in die Luft strecken. Der Bann schien gebrochen…

Jedoch waren es lediglich die Franzosen, die seitdem ihre Heimturniere gewinnen konnten. 1984 und 1998 wie erwähnt fand kein Konkurrent den Weg an „Les Bleus“ vorbei. Abgesehen davon offenbart sich eine große Reihe tragischer Momente: 1988 Deutschland verlor gegen den späteren Europameister Niederlande, 1990 Italien gegen Argentinien, 1996 England gegen den späteren Europameister Deutschland, 2000 dann die Niederlande gegen die Italienen. Danach verschwand der Halbfinalfluch vorerst aus dem Kontext Europameisterschaft und suchte lediglich die gastegebenden Nationen der Weltmeisterschaften heim. Sei es nun Südkorea 2002, Deutschland 2006 oder eben die Brasilianer 2014 – so nah am Ziel wurde der Traum vom ganz großen Finale im eigenen Land jäh gestoppt.

Insgesamt neun Gastgeber konnten die bisherigen Welt- und Europameisterschaftsturniere für sich entscheiden. In 11 der insgesamt 34 Turniere verabschiedete sich die heimische Mannschaft gastfreundlich-bescheiden im Halbfinale und überließen den anderen den großen Moment des Glücks. Dabei sieht die Statistik nicht unbedingt einen Vorteil darin, den Gastgeber geschlagen zu haben. Lediglich sechs der 11 Mannschaften konnten dann das Turnier auch für sich entscheiden. Nichtsdestotrotz wird die Mannschaft, die den Gastgeber eliminiert hat, meist von den heimischen Fans im Finale unterstützt, damit später der Eindruck am Titelträger gescheitert zu sein, die Enttäuschung über den geplatzten Traum auffängt.

Die deutsche Mannschaft wohlgemerkt verlor im Halbfinale stets gegen den späteren Titelträger. Sofern beim heutigen Spiel Frankreich gegen Deutschland die DFB-Elf den Kürzeren ziehen sollte, spräche damit so einiges für den Titelgewinn Frankreichs. Resistent gegen den Halbfinalfluch, in heimischen Stadien bei großen Turnieren unschlagbar. Eventuell bahnen sich aber auch die Deutschen wieder den Weg und nehmen den Schwung, mit dem Gastgeber die größte Hürde des Turniers genommen zu haben, mit ins Finale. So wie 1972, 1996 und 2014.

 

Axel Diehlmann

 

 

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