Über Reinickendorf ist außerhalb von Reinickendorf fast nichts bekannt. Vor allem in Sachen Fußball ist das ein großer Skandal, denn die Dichte und Vielfalt der Fußballvereine im Berliner Norden ist schlicht und ergreifend beeindruckend!
Text: Björn Leffler
Es kommt nicht selten vor, dass man einen fragenden Blick erntet, wenn man erzählt, dass man in Reinickendorf wohnt oder dort herkommt. Gebürtigen Berlinern ist Reinickendorf natürlich ein Begriff, allein weil sich der Flughafen Tegel dort befindet. Aber besonders in den Innenstadtbezirken sind gebürtige Berliner ja eher die Ausnahme als die Regel, und dem Heer der Zugezogenen ist Reinickendorf schlichtweg kein Begriff. Und selbst „waschechten“ Berlinern, die nicht aus einem der nördlichen Bezirke der Hauptstadt kommen, fällt es durchaus schwer, einige Charakteristika oder Sehenswürdigkeiten dieses Berliner Bezirks aufzuzählen. Reinickendorf, das scheint das riesige, gesichtslose Anhängsel über dem Wedding zu sein, wo… ja, wo nun was eigentlich ist?
Ich könnte nun einiges aufzählen, was wirklich sehenswert ist, wie etwa den Tegeler See mit Hafen und Greenwich-Promenade, den schönen Zeltinger Platz im wohlhabenden Frohnau, die Ruderkultur in Heiligensee oder die Pferdehöfe in Lübars. Darum soll es aber überhaupt nicht gehen. Denn was es in diesem notorisch unterschätzten Bezirk vor allem gibt, ist eine vielfältige, tief verwurzelte und bis in die entlegensten Winkel des Bezirks verästelte Fußballkultur.
In meiner äußerst bescheidenen Karriere als Amateurfußballer, bei der ich meinem Heimatverein VfB Hermsdorf von der D- bis in die A-Jugend immer treu geblieben bin, konnte ich über mehrere Jahre hinweg eintauchen in eine Fußballkultur, deren Widersprüchlichkeit und Vielfalt nur wenigen Außenstehenden wirklich bekannt ist. Dass diese (nicht nur rein fußballerischen) Kulturgräben, die sich mitten durch diesen raumgreifenden Bezirk ziehen, so wenig prominent sind, ist schon erstaunlich. Genauso erstaunlich wie bedauerlich ist es, dass es bei all den großen und traditionsreichen Vereinen, die sich im Norden Berlins tummeln, nur wenige bis in die höheren Ligen der Bundesrepublik geschafft haben.
Bekanntestes Beispiel der Reinickendorfer Fußballvereine sind hierbei natürlich die Füchse Berlin, die 1989 und 1990 jeweils knapp am Aufstieg in die 2. Bundesliga scheiterten und sich bis 1998 in der Regionalliga Nordost halten konnten, bis der Verein aus finanziellen Gründen einen Zwangsabstieg verdauen musste. Der Club, der Talente wie Thomas Häßler, Änis Ben-Hatira, Kevin-Prince Boateng oder Andreas Neuendorf hervorgebracht hat, gehört nicht nur im Bezirk, sondern auch in der Stadt zu den Fußball-Schwergewichten, aktuell vertreten in der höchsten Spielklasse Berlins, der Berlin-Liga, und durchaus mit Ambitionen, in die Oberliga aufzusteigen. In meiner Zeit als Jugendspieler war ein Ausflug zum „Fuchsbau“-Stadion am Freiheitsweg immer gleichbedeutend mit der Gewissheit, dass wohl wenig zu holen sein wird gegen die „Füchse“. Die große Rivalität herrschte zwischen uns Hermsdorfern und den Füchsen aber eh nicht, da hatten wir ganz andere Nachbarn, gegen die es schon eher mal heftig zur Sache ging.
Da der VfB im gutbürgerlichen Hermsdorf beheimatet war, galten wir in den meisten Spielzeiten, an die ich mich erinnern kann, als bunt zusammengewürfelter Haufen braver Muttersöhnchen, die urplötzlich in die raue Berliner Fußballwelt gestoßen wurden. Denn nur wenige Kilometer entfernt von der begrünten Hermsdorfer Wohlfühl-Oase lag das Märkische Viertel, und damit auch schon der erste harte Kontrast zu unserer Welt. Wenn wir zu den Duellen mit dem MSV Normannia ins „MV“ fuhren, wussten wir schnell, dass es für uns „Goldlöffel-Söhnchen“ ordentlich auf die Socken geben würde. Und das war eigentlich immer der Fall, egal ob wir zum VfL Tegel in die Hatzfeldallee, zum BSC Reinickendorf an den Schäfersee oder zu Concordia „Congo“ Wittenau an den Göschenplatz fuhren. Das waren und sind allesamt klassische Arbeitervereine, bei denen Fußball eher geackert als gespielt wurde. In diesen direkten Nachbarschaftsduellen ging es dann dementsprechend heiß her, da wir uns natürlich nicht dreimal bitten lassen wollten, zu beweisen, dass wir mehr als nur ein Haufen Muttersöhnchen sind.
Anders war es, wenn es uns in die direkte Nachbarschaft verschlug, auf den Frohnauer Poloplatz, zum Duell mit dem Frohnauer SC. Das waren dann quasi Duelle auf Augenhöhe, bei denen wir zwar nicht als „Bonzenkinder“ verspottet wurden, es aber dennoch hitzig zuging. So auch in den Spielen beim SC Heiligensee oder dem FC Lübars. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, häte man meinen können, die Vereine aus dem Norden Reinickendorfs würden in irgendeiner ländlichen Region Mitteldeutschlands liegen, so provinziell und dörflich war häufig die Atmosphäre bei den Spielen. Richtig städtisch wurde es dann in den südlichen Teilen des Bezirks, wenn es gegen die Arbeitervereine ging, bei denen wir auch schnell mit einer sehr viel höheren ethnischen Durchmischung der Teams konfrontiert wurden, etwa in den Duellen mit dem SC Borsigwalde an der Tietzstraße oder RFC Liberta auf der Sportanlage Scharnweberstraße, im Schatten des Flughafens Tegel.
Obwohl Pankow schon damals – vor der Eingemeindung von Weißensee und Prenzlauer Berg – zu Berlins größten Bezirken gehörte, und er direkt an Reinickendorf grenzte, gab es so gut wie keine Nachbarschaftsrivalitäten mit Pankower Vereinen. Hier herrschte eine historisch bedingte Gleichgültigkeit, wenn wir hinüber zu Spielen gegen Fortuna Pankow oder Concordia Wilhelmsruh fuhren. Und auch mit den benachbarten Vereinen aus Spandau gab es keine spürbaren, emotionalen Verbindungen oder Dissonanzen, da der Weg hinüber in die Wasserstadt einfach viel zu weit war. Im Süden Reinickendorfs, wo „Resi“ (Residenzstraße) und „Kutschie“ (Kurt-Schumacher-Platz) eine nur vage zu erahnende Grenze zum Wedding bildeten, gab es hingegen diverse und häufige Duelle, die von einer ausgeprägten Derbyatmosphäre geprägt waren. Wir wussten sehr genau, dass wir bei Spielen gegen Rapide Wedding am Erika-Hess-Eisstadion im Normalfall schon im Kabinengang blaue Beine von den Tritten unserer Kombattanten haben würden. Hier herrschten Antipathien, die während der Zeit der Teilung Berlins offenbar viel Zeit hatten, sich auszuprägen.
Es eröffneten sich in diesen bezirksübergreifenden Duellen noch einmal ganz neue Erfahrungen, wenn man nicht nur gegen elf Spieler, sondern zusätzlich auch noch gegen eine aufgebrachte, südländisch geprägte Zuschauermeute anspielen musste. BSC Rehberge, Meteor 06 oder Minerva 93 hießen die Gegner von der „anderen Seite“, die uns immer alles abverlangten, uns aber auch den Blick in einen völlig anderen Kulturkreis mit gänzlich unterschiedlichen Lebensumständen öffneten.
Reinickendorf – und der gefühlt dazu gehörende nördliche Wedding – bildeten und bilden ein Fußball-Konglomerat, welches einem sehr viele unterschiedliche Ausprägungen des Amateurfußballs bietet, quer hindurch durch alle soziologischen und ethnologischen Schichten und Kulturkreise. Eine Wochenend-Fußballreise ist es auf jeden Fall wert, so viel ist mal sicher. Und wenn man dann schon mal da ist, lohnt sich im Übrigen auch ein Spaziergang durch die „Weiße Stadt“, die Schillersiedlung im Süden Reinickendorfs. Die gehört nämlich zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und das in Reinickendorf. Könn se ma sehn!
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