Über die Anfänge meiner fußballerischen Laufbahn. Und die Definition von „Ball“.
von Björn Leffler
Ein wenig war es ein Spiel. Ein ewiges Hin- und Herwogen zwischen ihm und uns. Ein bisschen Hase und Igel. Und so ein wenig, hatte ich das Gefühl, gefiel es beiden Seiten. Ihm und uns.
Wir schreiben das Jahr 1994. In diesem Jahr begann meine äußerst bescheidene, anfangs von großen Hoffnungen getragene, fußballerische Karriere. Ich war Schüler auf der Schäfersee-Grundschule in Reinickendorf und besuchte dort die 5. Klasse. Ich war ein ordentlicher Schüler und im Unterricht meist auch bei der Sache. Am spannendsten fand ich Geschichte, Deutsch und Kunst.
Aber wirklich bei der Sache war ich erst, wenn die Pausenglocke durch die engen Flure schepperte und wir hinaus auf den Hof rennen konnten, um das immer gleiche Spiel zu zelebrieren. Fußball auf dem Pausenhof, meist zwei gegen zwei oder drei gegen drei. Ein 20-minütiges Spiel auf ein Tor, in welchem ein neutraler Torhüter stand. Ein kurzweiliges, intensives, von purer Siegeslust getriebenes Ringen.
Das Problem war nur: es war nicht erlaubt. Einen Fußballplatz gab es auf unserem Schulhof schon mal gar nicht, also ließen wir Kreativität walten und suchten uns ein eigenes Tor. Dies war immer eine übliche Parkbank, die auf dem Schulhof eigentlich zum Verweilen einladen sollte. Für uns aber war sie ein Tor, mit zwei Pfosten und einem – zugegeben – äußerst niedrigen Querbalken. Bei den ersten Spielen hatten wir natürlich auch einen Ball dabei, einen guten alten Tennisball. Der hatte genau die richtige Größe für die kleine Parkbank.
Und ich weiß noch relativ genau, dass es in einem dieser ersten Spiele war, als mir Moritz, der immer in meinem Team spielte, den Ball perfekt durch zwei gegnerische Schergen hindurch gesteckt hatte. Die kleine Filzkugel kullerte mir perfekt vor den linken, schwachen, Fuß. Anstatt nachzudenken und den Ball nochmal zu stoppen, um ihn mir auf den starken Rechten zu legen, zog ich einfach direkt ab und traf ihn perfekt.
Vorbei am hilflos mit den Armen wedelnden Dennis (der Torwart) rauscht der Ball granatenhaft Richtung Tor und… prallte spektakulär von der Latte ab, in hohem Bogen. Wir blieben wie angewurzelt stehen und schauten der Kugel nach. Und just im Moment, als ich theatralisch noch die Hände vors Gesicht schlagen wollte (wie wir das von den Bundesliga-Stars bei „RAN“ ja kannten), hatten wir plötzlich ganz andere Sorgen.
Denn der Ball kullerte schnurstracks auf Schulleiter Amling zu und plopste ihm von hinten ans Hosenbein. Herr Amling drehte sich um, nahm den Ball und stapfte geradewegs auf uns zu, um uns mitzuteilen: „Fußballspielen ist auf dem Hof verboten!“
Den Ball behielt er natürlich ein. Herr Amling war gleichzeitig auch unser Englisch-Lehrer und als harter, aber im Grunde herzlicher Hund bekannt. Aber beim Thema Fußball verstand er wirklich keinen Spaß. Warum, das erschloss sich uns natürlich nicht. Wir wollten kicken, knobeln, bolzen.
Am nächsten Tag schon hatten wir einen weiteren Ball am Start, einen Gummiball. Allerdings nur so lang, bis Amling unserer kleinen Fußballecke im entlegensten Winkel des Hofes der Kontrolle halber einen Besuch abstattete. Der nächste Ball war eingezogen, und dazu ein Verbot ausgesprochen: „Keine Bälle mehr!“
Wir gehorchten. Was nun folgte, war die „große kreative Phase“, wie ich es gern nenne. Zuerst spielten wir mit einzelnen Trinkpäckchen. Dies ging noch ganz gut, solange sie nicht völlig plattgetreten waren. Leergetrunken mussten sie natürlich sein. In einer späteren Phase, als wir schon etwas reifer und wilder waren, spielten wir mit Cola-Dosen. Das Präparieren der Dose vor dem beginnenden Spiel war ein heiliges Ritual, und nur die Besten durften sich versuchen, der aufgestellten Dose durch einen gedämpften Tritt frontal von oben eine so kugelähnliche Form als irgend möglich zu geben. Wenn die Dose zu flach geriet, war das Gejaule groß.
Durch den Einsatz der Dosen wurde das Spiel naturgemäß härter, vor allem für die Torhüter. Die scharfkantigen Geschosse, die da zum Teil in Richtung Parkbank abgefeuert wurden, hinterließen unangenehme, z.T. blutige Wunden. Es waren natürlich kleine Wunden. Aber es waren Wunden.
Dieses Spielchen sah sich Amling natürlich auch nicht lang an, allerdings war er auch etwas machtlos. Er konnte ja nicht alle Trinkpäckchen und Getränkedosen vom Schulgelände verbannen. Und er war auch nicht bei jeder einzelnen Hofpause anwesend. Ab und an hatte er tatsächlich noch andere Dinge zu erledigen, als ein aufmüpfiges Rebellenhäufchen am Fußballspielen zu hindern.
Immer wieder ermahnte er uns zwar, das Spielen zu unterlassen, jedoch war er dabei niemals so drohend – wie er durchaus sein konnte – dass wir tatsächlich mit dem Spielen aufhörten. Unsere kindliche Unvernunft siegte immer wieder über den erwachsenen Aufruf zur Ordnung.
Einmal nur, da wurde er noch fuchsteufelswild. Als wir uns – ich gestehe, es war mein Werk – aus mehreren Trinkpäckchen und einem Paketband eine Art Ball geformt hatten, der sich formidabel zum Spielen eignete. Dieser „Ball“ wurde bereits nach wenigen Minuten einkassiert. Von ihm persönlich. Bälle waren ja nun überhaupt nicht erlaubt, so viel wussten wir ja noch. Offenbar auch solche aus Paketband und Trinkpäckchen nicht. Nun gut.
Technisch hat uns das Pausenhofspiel natürlich enorm weitergebracht. Wenn man es einmal draufhatte, ein knittriges Trinkpäckchen oder eine kantige Dose mit dem linken Außenrist zu überreißen, dann war das später mit einem richtigen, ledernen Ball natürlich überhaupt gar kein Problem mehr. Die Schulhofjahre waren technisch gesehen die wichtigste Schule für mich, eindeutig. Mit jedem nigerianischen Straßenjungen hätte ich fußballerisch locker mithalten können. Läuferisch vermutlich eher weniger.
Irgendwann später einmal offenbarte Herr Amling uns im Rahmen des Englisch-Unterrichtes, dass er durchaus einmal ein großer Anhänger des Fußballs war und mehrmals im Jahr rüber nach England geflogen ist, um sich die Heimspiele des FC Liverpool anzusehen. Er berichtete davon, wie er mit einem Freund, den er dort hatte, auf die Stehplatztraversen der Anfield Road ging und wie es ihm mulmig wurde, als von hinten immer mehr und immer mehr und immer mehr Menschen auf die Tribünen drängten, während ihm vorn die Luft eng wurde.
„Und dann kam Hillsborough“, sagte er dann. „Und das war’s dann, seitdem war ich nie wieder da.“ Ich habe gar nicht verstanden, damals, was er damit eigentlich sagen wollte. Moritz, der immer etwas weiter war als ich, nickte wissend. Es hat in diesem Moment aber auch niemand gefragt, was er damit meinte, und er hat es auch nicht weiter ausgeführt. Ich habe mir nur sein Gesicht, seinen Blick gemerkt. Seine Augen, die traurig nach unten schauten.
Das war 1994, gerade einmal fünf Jahre nach der Stadionkatastrophe von Hillsborough, bei der 89 Menschen bei einem FA-Cup-Halbfinale auf Stehplatztribünen in einem englischen Fußballstadion zu Tode gequetscht wurden. Allesamt Liverpool-Fans.
Rückblickend konnte ich dann, viele Jahre später, Amlings Vorbehalte gegenüber dem Fußball nachvollziehen. Aber wirklich sicher bin ich mir nicht, ob das wirklich etwas mit Hillsborough zu tun hatte, oder ob er einfach nur Ruhe und Ordnung auf dem Schulhof haben wollte.
Ich tippe mal auf Zweiteres.
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