Mein bestes EM-Erlebnis zu beschreiben war eine Aufgabenstellung, die mich ins Grübeln brachte. Was waren die großen europäischen Momente des Fußballs, die mich heute noch begleiten und in Erinnerung schwelgen lassen, auch wenn ich mich eher für den Vereinsfußball begeistere? Die EM von 1996 war ein klasse Turnier und verfestigte meine Leidenschaft zu dem Sport. Insbesondere das Tor von Matthias Sammer im Viertelfinale gegen Kroatien hatte es mir aufgrund seiner demonstrativen Durchsetzungskraft angetan. Aber war das mein liebstes EM-Erlebnis? Irgendwie regt sich da nicht so viel in mir. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss: die beste EM in meiner Erinnerungswelt ist die von 2004. Ein grandios überraschendes Turnier der Favoritenstürze, welches Griechenland sensationell für sich entscheiden konnte. Der minimalistische Fußball der damaligen Europameisterschaft wird in meiner Erinnerung durch eine gleichzeitig vollzogene Reise durch Frankreich und Spanien nostalgisch verklärt und mit schönen kleinen Anekdoten verknüpft. Drei Geschichten eines Sommers…
Die erste fand in einer recht trostlosen Jugendherberge an einem Autobahnkreuz in der Nähe von Lyon statt. Unsere kleine aber feine Reisegruppe verfolgte das letzte Gruppenspiel der deutschen Mannschaft gegen stark aufspielende Tschechen. Während Milan Baros die letzten Hoffnungen Deutschlands ad absurdum führte, erfreuten wir uns an den Schwierigkeiten des französischen Kommentators den Namen eines neu auf der großen Fußballbühne präsenten Jünglings wiederzugeben. „Bastiong Chschwainschtaigäär“ klang es aus der Röhre im Fernsehzimmer, welches einer Jugendherberge im französischen Sommer entsprechend international besetzt war. Zwar interessierten sich nur wenige der Anwesenden für das Spiel, aber ein junger Marokkaner sorgte für eine der Anekdoten, die wir fortan mit uns tragen durften. Im Laufe der zweiten Halbzeit war es so weit: wir kamen ins Gespräch und er offenbarte einem von uns, dass er Ähnlichkeit mit Oliver Kahn besäße. Niemals wäre uns dies aufgefallen, aber die internationale Perspektive ließ uns freudestrahlend die letzten Minuten des Ausscheidens der deutschen Elf verfolgen. Denn: auch wenn wir dies nicht nachvollziehen konnten, fortan waren wir mit Oli Kahn auf Reisen.
Einige Tage später gelangten wir in die spanische Grenzstadt Port-Bou. Ein kleines Städtchen, welches für viele Bahnreisende ein unausweichliches Nadelöhr zwischen Frankreich und Spanien ist. Der kleine Ort hat dafür jedoch fast alles, was sich unsere Reisegruppe damals wünschte. Eine großartige kleine Bucht mit warmem Mittelmeerwasser, günstige und für campingerprobte Reisende tendenziell luxuriöse Übernachtungsmöglichkeiten und eine kleine charmante Bar in verschlafener Lage mit ortsansässiger Bevölkerung. Eben dort verfolgten wir das Viertelfinale zwischen Tschechien und Dänemark. Während wir uns über Tapas und Bier hermachten, entzauberten die Tschechen überforderte Dänen, was uns durchaus sympathisch war, aber für keine großen Emotionen bei uns sorgte. Während der ersten Halbzeit verließ die Tischgemeinschaft hinter uns die kleine Bar und schmetterte uns ein „Good-Luck-Denmark“ entgegen. Unser Antlitz sprach also eindeutig für eine dänische Herkunft. Wir waren ertappt als blasse Mittel- beziehungsweise Nord-Europäer und sehnten uns den Stränden am spanischen Mittelmeer entgegen. In der Analyse der Situation erkannten wir jedoch, dass drei von vier Personen an unserem Tisch (wohlgemerkt zufällig) rote T-Shirts trugen. Nach einer Woche Reisegemeinschaft hatten wir uns schon unbewusst uniformiert und entsprechende Assoziationen im Verbund mit der Fußballpartie der Dänen ausgelöst.
Im Mittelpunkt der dritten Geschichte steht die gemeinsame euphorische Ungläubigkeit ob der damaligen Fußballgeschichte. Wir waren kurz vor Ende unserer Reise in Biarritz an der französischen Atlantikküste angekommen und verfolgten dort in einer kleinen und entsprechend überfüllten Kneipe das Finale der Europameisterschaft zwischen dem Gastgeber Portugal und den von Otto Rehhagel ins Finale gecoachten Griechen um die Mittelklasse-Kicker Angelos Charisteas, Kostas Katsouranis und Theofanis Gekas. Wie die gesamte europäische Fußballwelt erwarteten wir einen Sieg der Portugiesen und ärgerten uns insgeheim, dass wir trotz vorhandener Bestrebungen nicht nach Lissabon gereist waren, um einem großen Fußballfest beizuwohnen. Nach 90 intensiven Minuten und einem im jüngsten Turnierverlauf bewährten 1:0 der Griechen war eine der größten Sensationen des europäischen Fußballs perfekt. Auch in Frankreich fand eine Solidarisierung mit dem Außenseiter trotz der kargen Spielkultur Griechenlands statt, so dass die versammelte Menge zu einem kurzen Jubelsturm ansetzte, als der Abpfiff ertönte. Wir jubelten mit und erfreuten uns an den Tränen Cristiano Ronaldos und dem ungläubig lachenden Otto Rehhagel, dessen große Karriere mit diesem Erfolg gekrönt wurde. Für eine kleine Anekdote sollte es nach dem Spiel auch noch reichen, als wir gefühlt 1500km von Berlin entfernt einen ehemaligen Mitschüler unseres Gymnasiums trafen. Es war ein ziemlich runder Abschluss einer großartigen Reise, für die die EM 2004 ein passendes Rahmenprogramm bot.
Axel Diehlmann
Zweiter Teil der EM-Erlebnisse unserer Autoren: Als ich nicht jubeln durfte.
Erster Teil der EM-Erlebnisse unserer Autoren: Bildausfall und Bela Rethy
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