Achtung Kehrtwendung! Nachdem wir in den letzten Monaten nahezu keine Chance ausgelassen haben, um uns über die pseudo-progressiven Kräfte des modernen Fußballs aufzuregen, wollen wir nunmehr uns auch mal gutmütig zu einem ambitionierten Vorschlag des neuen UEFA-Präsidenten positionieren und die Chancen für die von uns heißgeliebte Fußballkultur darin erkennen.
Ein Champions-League-Finale in New York? Zunächst fühlte ich lediglich erneut ein Gefühl der Ermattung, als ich die Nachricht vernahm, dass der neue UEFA-Vorsitzende Ceferin sich gut und gerne das größte europäische Spiel als interkontinentalen Exportschlager vorstellen könnte. Analog zu Gianni Infantinos Vorschlag das Teilnehmerfeld der Weltmeisterschaft weiter aufzublähen können wir davon ausgehen, dass diese Gedankenspiele quasi schon umsetzungsreif im jeweiligen Schreibtischschubfach schlummern. Die Turniere werden ausgeweitet und die kontinentalen Finals der Vereinsmannschaften in der globalen Fußballwelt hin und her gereicht. Brave new World.
Geht der Verfall der Fußballkultur dementsprechend ungehemmt weiter? Bezüglich der immer stärker wahrnehmbaren Entfremdungsprozesse vom modernen Fußball ist wohl einerseits davon auszugehen. Insbesondere die Drohkulisse der europäischen Superliga droht den europäischen Fußball final zu spalten und die letzten Reste von fußballerischem Wettkampf, die trotz der Diskrepanzen infolge der unausgeglichenen Gelderverteilung geblieben sind, in der Nostalgiekiste zu verkramen. Der zeitgenössische Fußballmarkt wird immer kalkulierbarer und entsprechend wirtschaftlich verwertbar. Die Marktmechanismen hinterlassen dabei fernab des Hochglanzprodukts und der großen Bühne der Inszenierung fußballkulturelle Ruinen. Besserung war lange nicht in Sicht. Retortenvereine und Investorenspielereien dominieren zunehmend eine Sportart, die über ein Jahrhundert soziales Integrationsmodell war und als Repräsentationsort städtischer Kultur galt.
Da erscheint es nahezu charmant, wenn nunmehr der Vorschlag auftaucht das wichtigste Spiel des europäischen Fußballs fernab des europäischen Kontinents auszutragen. Denn hierdurch entsteht dann endgültig ein sportliches Vakuum, welches von den kleinen Vereinen wieder besser genutzt werden kann. Die großen Clubs und Funktionäre rennen den Geldtöpfen hinterher und hinterlassen ein Feld, in dem sich die Vereine wieder neu profilieren können, da die wahre Faszination des Fußballs vor der eigenen Haustür liegt. Kaum etwas geht über das eigene Stadionerlebnis und die damit verbundene Fußballkultur. Durch den Abzug der Branchenführer in die mediale Scheinwelt würde die zurückbleibende Fußballwelt an Authentizität gewinnen. Sollen doch die Großen des Geschäfts wie die Harlem Globe Trotters um die Welt merchandisen wie sie wollen. Diejenigen, die sich dafür interessieren, können ja dann ihre Helden im Fernsehen verfolgen. In den hiesigen Stadien würde wahrscheinlich auch der popkulturellen Entwicklung der Spieltagsinszenierung Einhalt geboten werden. Auch die überbordende Präsenz der visuellen und auditiven Werbung würde an wirtschaftlicher Attraktivität verlieren.
Natürlich wäre mit dieser Abspaltung zunächst ein großer finanzieller Einschnitt für die mittelklassigen und kleineren Vereine verbunden. Immerhin würden Fernsehgelder, Sponsoringeinnahmen und Marketingerträge in gravierendem Maße wegbrechen. Gleichzeitig wäre aber auch der Druck vondannen sich diesen Marktprozessen unterordnen zu müssen. Im Sinne der eigenen Profilbildung würden Vereine sich wieder stärker dem eigenen Stadtraum zuwenden und eventuell sogar als sozialer Akteur auftreten und Identifikations- und Integrationsprozesse ankurbeln. Die ganz große Show würde woanders stattfinden, während in der restlichen Welt einfach Fußball gespielt wird.
Auch ein Vergleich mit dem Filmgeschäft offenbart die Chancen, die das entstehende Vakuum bieten würde. In den 1990er und 2000er Jahren erlebte Hollywood seine ganz große Blütezeit, während die restliche Filmwelt aufgrund des personellen und materiellen Ressourcenabgangs nahezu brach lag. Inzwischen hat das europäische und lateinamerikanische Kino dem Branchenprimus in Hollywood den Rang abgelaufen. Auch wenn dort weiterhin das große Geld verdient wird und der Glanz der Oscars weiter hochgradig inszeniert wird, die Stärken der cineastischen Kultur sind eher in Cannes, Venedig und Berlin zu finden. Der Fußball könnte eine ähnliche Entwicklung nehmen und den Mainstream mit seinen höchstem Kulturgut der Klatschpappe auf die heimischen Fernsehsessel verbannen. Ein wahrhaft verlockender Gedanke.
Als persönliche Anmerkung möchte ich darauf verweisen, dass eine solche Entwicklung auch für mich einschneidende Konsequenzen hätte. Meine seit über zwei Jahrzehnten anhaltende Leidenschaft für den BVB könnte ich mir dann abschminken, da dieser wohl aufgrund der Gemengelage zwischen sportlichen Erfolg, Tradition und Marketingprodukt zum erlauchten Kreis der Vereine zählen würde, für die dann der nationale Wettbewerb nur noch eine Randnotiz in der Vereinsgeschichte sein würde. Es wäre ein ungemeiner Verlust, der für mich kaum auszudenken ist, aber bei einer weiteren Aushöhlung der Fußballkultur würde ich dann auch liebend gerne verzichten und mit offenen Augen den fußballerischen Sinn in Berlin nachschnuppern. Denn: Der moderne Fußball der großen weiten Sportwelt ist eine einzige Enttäuschung. Insbesondere die quasi nicht vorhandene Möglichkeit an Eintrittskarten für ein Spiel seiner Lieblingsmannschaft zu kommen ist hierbei eine der markantesten Problemlagen. Wenn man bedenkt, dass ein Hauptteil der Pokalfinalkarten an Sponsoringpartner abgegeben werden, während die enthusiastischen Anhänger in Warteschleifen – telefonisch und real – campieren, ist man ohnehin geneigt, dieses Spielchen nicht mehr mitzumachen.
Auch ich hätte nicht mehr geglaubt, dass ich jemals Karl-Heinz Rummenigge Recht geben würde. Aber nunmehr ging mir ein Licht auf: Her mit der europäischen Superliga! Aber bitte nicht in europäischen Stadien! Meinetwegen dann halt auch auf dem Mars. Ich geh dann raus kicken…
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