Die Utopie
Es sollte die krönende Saison für Pep Guardiola und den FC Bayern München werden. Nach dem bitteren Aus im Halbinfale in DFB-Pokal und Champions League in der Vorsaison hatten sich die Münchner mit der popeligen Meisterschale trösten müssen. 2015/16 sollte nun endlich die Spielzeit werden, in der der große Wurf, der Henkelpott mindestens, das Double sehr gern, das Triple im Idealfall, gelingen sollte. Die Bayern hatten auf dem Transfermarkt international nochmal zugeschlagen und den bereits exzellenten Kader noch zusätzlich verstärkt. Die Mannschaft schien unschlagbar, allein das Stürmerduo Lewandowski/Müller war für 50 Tore gut, mindestens.
Aber dann kam alles doch ganz anders. Nachdem sich der HSV am ersten Spieltag der Saison vor den Augen der gesamten Republik im Bundesliga-Eröffnungsspiel einen Punkt ermauerte (0:0), folgte in der Woche darauf beim Auswärtsspiel in Hoffenheim der erste kleine Dämpfer, die Bayern unterlagen 1:2 durch zwei Volland-Tore in den letzten vier Minuten. Schlimmer noch: Thomas Müller riss sich in diesem Spiel das Kreuzband und würde für den Rest der Hinrunde ausfallen. Auch der Rest des Kaders laborierte an langwierigen Verletzungen, Robben und Ribéry fehlten schon seit Monaten.
Im Heimspiel gegen Bayern Leverkusen sah es dann lange nach dem guten, alten Mia-san-mia aus, die Bayern führten bis zur 80. Minute 2:0. Dann traf erst Calhanoglu per Freistoß und später Kießling aus abseitsverdächtiger Position. Nach drei Spieltagen standen lediglich zwei Pünktchen auf dem Konto der Überbayern, der Boulevard grummelte.
Doch auch im nächsten Heimspiel gegen den FC Augsburg kamen die Münchner nicht über ein 1:1 hinaus und verzettelten sich zudem in eine hanebüchene Diskussion um einen nicht gegebenen Elfmeter kurz vor Schluss. Über die spielerischen Schwächen, die das Team gegen die kompakt stehenden Augsburger aufwies, konnte dies aber nicht hinwegtäuschen.
Wirklich schlimm wurde es erst, als die Münchner trotz klarem Chancenplus mit 0:3 beim SV Darmstadt unter die Räder kamen. Während Karl-Heinz Rummenigge auf der Tribüne bereits nach dem 2:0 durch Wagner (dem in der zweiten Halbzeit ein lupenreiner Hattrick gelang) der Schaum am Mundwinkel hing, riss sich Pep Guardiola unten vor Wut das Hosenbein kaputt.
Nach fünf Spieltagen fanden sich die Bayern auf Platz 14 wieder. Ein langer Weg zurück zur Spitze, aber noch war natürlich nichts verloren.
Dachte man in München zumindest. Nach dem 1:5 gegen den VfL Wolfsburg, bei dem die letzte verbliebene Sturmhoffnung Robert Lewandowski in der 43. mit einem Muskelbündelriss ausgewechselt werden musste, brachen alle Dämme. Dem 0:1 zur Pause folgte trotz des zwischenzeitlichen Ausgleichs durch Costa eine derart desolate zweite Halbzeit, dass Dost und Herrmann keine Mühe hatten, sich im Minutentakt durch die bajuwarische Abwehr zu dribbeln.
Nach dem sechsten Spieltag war klar – Bayern stand auf einem Abstiegsrang. Trotz der bitteren Pleite demonstrierten die Münchner Geschlossenheit. Sammer, Rummenigge, Beckenbauer – sie waren alle nicht für Interviews zu haben. Allerdings wurden aus der JVA Landsberg Gerüchte übermittelt, dass sich Uli Hoeneß in der Dusche mit einer rumänischen Autoschieberbande angelegt hatte. Unbestätigten Berichten zufolge mussten alle vier Bandenmitglieder nach der kurzen aber heftigen Rangelei ins Krankenhaus eingeliefert werden. Bei Uli saß der Stachel der Frustration wohl besonders tief, da sollte man ihm nicht komisch kommen.
Als nach dem 1:1 am Mainzer Bruchweg weder spielerisch noch kämpferisch eine Wende absehbar war, wurden die Stimmen immer lauter, die eine Entlassung Pep Guardiolas noch vor der Winterpause forderten. Der Name Jupp Heynckes machte plötzlich wieder die Runde. Nur eine Woche später, beim 1:2 gegen Borussia Dortmund, fingen Kameras einen Faustkampf zwischen Sammer und Guardiola im Spielertunnel ein. Philipp Lahm, der schlichtend dazwischen gehen wollte, wurde anschließed mit einem vierfachen Kieferbruch ins Krankenhaus eingeliefert und fiel für den Rest der Hinrunde aus.
Als sich die Bayern auch gegen die verunsicherten Bremer als Aufbaugegner erwiesen und an der Weser mit 1:2 baden gingen, skandierten die mitgereisten Bayern-Anhänger „Claudio Pizarro, du bist der beste Mann!“ Witzigerweise hatte Pizarro auch beide Tore erzielt und dabei innig das Werder-Logo geküsst. Laut hörbar waren aber auch die „Guardiola-Raus“-Rufe, nachdem die Bayern durch die Niederlage in Bremen auf den vorletzten Tabellenplatz abgerutscht waren. Trikots, die die Spieler den mitgereisten Fans zuwarfen, warfen diese wieder zurück. Das Band zwischen Mannschaft und Anhängern schien zerschnitten.
Nachdem es unter der Woche dann im Training an der Säbener Straße mehrfach zu Handgreiflichkeiten zwischen den Spielern (Neuer gegen Rafinha, Vidal gegen Alonso) und Trainern (Gerland ohrfeigte Guardiola, weil dieser ihn im Trainingsspiel frech getunnelt hatte) gekommen war und zwei weitere Leistungsträger verletzt ausfielen, war das biedere 0:0 gegen den 1. FC Köln schon kaum noch eine Überraschung mehr.
Die Bayern-Fankurve machte ihrem Unmut mit einer gigantischen Choreo Luft. Beim Einlauf der Mannschaften hielten die Fans Papptafeln mit der Aufschrift „Koan Pep!“ hoch. Noch aber streubten sich die Verantwortlichen, den Star-Katalanen tatsächlich vor die Tür zu setzen.
Als dieser jedoch eine Woche später in Frankfurt beim Stande von 0:0 in der 35. Minute David Alaba für Douglas Costa brachte, um das Unentschieden zu sichern und der stürmenden Eintracht Herr zu werden, platzte Vorstands-Kalle fünfzig Meter über ihm endgültig der Kragen. Wutenbrannt sprang er auf, polterte irgendetwas in einer nicht verständlichen Sprache, warf seinen Kashmir-Schal entnervt in die Vorderreihe und stapfte in die Mixed-Zone. Dort gab er noch in der Halbzeitpause ein jetzt schon legendäres Interview: „Pep Guardiola ist ab sofort nicht mehr Trainer unserer Mannschaft. Der Sack kommt mir nicht mehr in die Kabine!“
Und so war es auch. In der zweiten Halbzeit nahm Kalle selbst auf der Bayern-Bank platz, konnte aber auch nicht die verdiente 0:2-Pleite verhindern, welche die Bayern auf Tabellenplatz 18 abrutschen ließ.
Die Wirklichkeit
Was hier klingt wie der feucht-utopische Traum Millionen deutscher Fußballfans ist gar nicht mal so weit hergeholt, wie es im ersten Moment klingt. Machen wir einen Sprung zurück ins Jahr 1991.
Die Bayern galten im Sommer als klarer Titelfavorit. Im Vorjahr war zwar sensationell der 1. FC Kaiserslautern Meister und der FC Bayern nur Vizemeister geworden, aber man hatte an der Säbener Straße kräftig investiert, um nicht nur den nationalen, sondern auch den internationalen Titel zu holen. In der Vorsaison war man denkbar knapp und äußerst unglücklich durch ein Augenthaler-Eigentor im Halbfinale des Landesmeister-Pokals am späteren Sieger Roter Stern Belgrad gescheitert. Dabei hatte Jupp Heynckes auf dem Rathausbalkon bei der Meisterfeier 1990 den Fans noch den Europapokal der Landesmeister versprochen. Knapp vorbei ist leider auch daneben.
Die Bayern hatten für die Saison 1991/92 Stars wie Berthold, Thon, Effenberg, Sternkopf, Labbadia oder Laudrup in ihren Reihen – und sollten dennoch eine der schwärzesten Spielzeiten der Vereinsgeschichte erleben. Nach einem 1:1 zum Auftakt in Bremen ging gleich das erste Heimspiel gegen Underdog Hansa Rostock verloren, dann allerdings folgten drei Siege, alles schien in bester bajuwarischer Ordnung zu sein. Dann jedoch der Rückfall, am sechsten Spieltag verloren die Bayern ihr Heimspiel gegen den VfL Bochum 0:2 und verloren zwei Wochen später beim HSV mit 0:1. Der Arbeitsplatz von Jupp Heynckes war hier schon längst nicht mehr sicher, und es folgten zwei Unentschieden gegen Frankfurt und Nürnberg, die die Situation nicht besser machten. Zudem hatten die Münchner mit großem Verletzungspech zu kämpfen.
Dennoch, vor dem Duell am 12. Spieltag zu Hause gegen die Stuttgarter Kickers besetzten die Münchner immerhin noch einen Platz in der oberen Tabellenhälfte: Platz 8. Das Heimspiel gegen die Schwaben geriet dann allerdings zum Desaster, nach dem 1:4 wurde Jupp Heynckes von Freund und Förderer Uli Hoeneß entlassen, was er noch heute als „größten Fehler“ seiner Managerlaufbahn bezeichnet.
Ein Trainerwechsel-Effekt blieb allerdings aus. Der Neue, Sören Lerby, musste direkt nach der Stuttgart-Niederlage eine weitere, desolate Klatsche mitansehen, zu Hause setzte es ein 0:3 gegen Borussia Dortmund, gefolgt von einem 2:3 in Stuttgart. Nach diesem Spiel am 14. Spieltag fanden sich die Bayern auf Platz 14 wieder, mit nur noch einem Punkt Vorsprung auf Abstiegsrang 17 (die Bundesliga wurde in diesem Jahr mit 20 Vereinen gespielt).
Einem 3:0 gegen Mönchengladbach folgten drei Unentschieden, bis wieder ein Sieg (1:0 gegen den KSC) errungen werden konnte. Die Bayern gurkten sich fortan mehr schlecht als recht durch die Saison, unterlagen direkt nach der Winterpause gegen Bremen (3:4) und in Rostock (1:2) und verloren unglaubliche 15 Spiele in dieser Saison. Als am 24. Spieltag Dynamo Dresden, bis dahin auswärts sieglos, 2:1 bei den Münchnern siegte, ging tatsächlich die Abstiegsangst um in der bayerischen Landeshauptstadt. Nur drei Punkte trennten die Bayern da noch vom direkten Abstiegsplatz.
Auch am 30. Spieltag (von 38), nach einem 1:3 in Nürnberg, stand noch immer das dünne 3-Punkte-Polster, das die Bayern von der Abstiegszone trennte. Am 34. Spieltag kamen die Bayern nicht über ein 1:1 gegen die Borussia aus Mönchengladbach hinaus und hatten vier Spiele vor Schluss noch immer nur drei Punkte Vorsprung vor dem 17. Tabellenplatz.
Erst drei Spieltage vor Schluss gelang den Bayern der Befreiungsschlag, ein 5:2 gegen Wattenscheid 09 rettete den Münchnern letztlich die Klasse. Die Mannschaft ließ sich in den letzten drei Spielen dann offenbar dermaßen gehen, dass sie zwei der letzten drei Spiele gegen Leverkusen und Karlsruhe verlor und die Saison letztlich auf einem indiskutablen 10. Platz abschloss. Seit der Saison 1991/92 platzierte sich keine Mannschaft des FC Bayern mehr so weit hinten in der Tabelle.
Jupp Heynckes, wie wir wissen, hatte 22 Jahre nach seinem Rauswurf die Möglichkeit, diese ganz bittere Scharte in seiner Trainerkarriere auszumerzen, was ihm auch gelang. Während seiner mittlerweile dritten Amtszeit beim FC Bayern 2011-2013 gelang ihm mit der Mannschaft zweimal der Einzug ins Champions-League-Finale, welches die Bayern 2013 auch gewinnen konnten. In diesem Jahr gelang erst- und einmalig auch das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League.
An Abstiegskampf dachte da natürlich niemand mehr. Aber eine schöne Vorstellung ist es dennoch, diese Übermaß-Bayern für eine Saison mal nicht dort oben zu finden, sondern etwas weiter unten. Einmal nur, ein einziges Mal.
Aber das wird erstmal wohl nur eine schöne Idee bleiben.
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