von Björn Leffler
Fußball lässt sich ja quasi mit allen möglichen Utensilien spielen. Mit Bällen, das ist klar. Es geht aber auch mit Trinkdosen, Tetrapäckchen, Eimern, Holzklötzen (dafür sollte man allerdings nicht barfuß spielen) oder Luftballons.
Oder man spielt mit einem Stiefel. Ich habe lange in meinen Erinnerungen gekramt, aber ich konnte letztlich nicht mehr rekonstruieren, wann oder wo wir ihn eigentlich gefunden hatten. Wir waren 12 oder 13, lebten im Reinickendorf-Weddinger Grenzgebiet und waren täglich auf unserem Weg durch die Straßen und Parks unseres Stadtteils.
Wir, das waren mein Klassenkamerad und bester Freund Daniel, und ich. Zwei Jungs auf dem langen – sehr langen – Weg der Selbstwerdung und Persönlichkeitsfindung. Da es uns nahezu täglich ins nahegelegene Einkaufszentrum „Der Clou“ trieb (wo wir täglich stundenlang CD’s bei „ProMarkt“ probehörten und unsere musikalische Sozialisation ihren Lauf nahm), benötigten wir für den rund 20-minütigen Fußweg eine adäquate Beschäftigung.
Neben den weltbewegenden Themen dieses Alters und der Zeit (der Tetris-Rekord auf dem GAME BOY, die hübsche Sitznachbarin in der 7. Klasse, die letzte Folge von „Tsubasa Ozora“) fanden wir insbesondere Spaß daran, mit den Elementen, die uns unsere Umgebung bereit stellten, physisch aktiv zu werden. Ich gehe jetzt hier bewusst nicht darauf ein, welche skandalösen Kapriolen wir im Verlauf der Jahre fabriziert haben. Eines der harmlosesten Objekte, das uns jedenfalls vor die Flinte kam, war ein alter, ausgetragener, schwerer Stiefel.
Wir kickten das Objekt am Tag, als wir es fanden, lustlos vor uns her, während wir uns – wie immer in sinnfreie Gespräche vertieft – in Richtung „Clou“ bewegten. Als wir am „Kutschi“, wie die Alteingesessenen sagen, angekommen waren, ließen wir den Stiefel achtlos liegen und sammelten ihn auf dem Rückweg zufällig wieder ein und kickten ihn weiter vor uns her, den gesamten Weg zurück zu Daniels Eltern. Es stellte sich heraus: Es war ein großer Spaß! Wir waren Kinder der 90er und daher noch mit sehr einfachen Mitteln zufrieden zu stellen.
Was am ersten Tag unserer Begegnung eine Folge aneinandergereihter Zufallshandlungen war, wurde in den kommenden Jahren zum festen Ritual. Den Stiefel versteckten wir jeweils in einer Ecke in der Nähe der Wohnung von Daniels Eltern und holten ihn stets hervor, wenn es uns zum „Clou“ oder irgendwo anders hin trieb.
Wir gingen quasi nirgends mehr hin, ohne usneren Freund, den Stiefel, dabei zu haben. Im Laufe der Jahre lernten wir sehr gut, wie seine Physiognomie funktionierte. Wir kickten ihn hart, weich, ungestüm, gezielt. Wir legten ihn mit der Hacke auf, wir lupften ihn, wir nahmen ihn volley, mitunter köpften wir ihn sogar. Mit anderen Worten: Wir vergötterten diesen Stiefel, er wurde ein Teil von uns (vor allem durch die zahlreichen Hämatome, die wir uns dadurch zufügten).
So wie afrikanische Kinder den Fußball beim Spielen mit einem Stoffballen oder anderen Abfallsprodukten kennenlernten (so unsere klischeegetränkte Vorstellung), so lernten wir Fußball spielen, indem wir diesen Stiefel malträtierten. Das „Ballgefühl“, das wir an diesem Stiefel entwickelten, war nach einigen Jahren absolut herausragend. Ohne dass ich uns hier glorifizieren möchte. Aber am Stiefel machte uns niemand was vor, absolut niemand. Dies hatte auch positive Auswirkungen auf fußballerische Auseinandersetzungen, die ebenfalls ohne Ball auskommen mussten, wie etwa das Trinkpäckchen-basierte Duellieren auf dem Schulhof.
Natürlich gab es kleinere und größere Katastrophen. Der Stiefel flog mehrfach über Zäune, meist landete er auf dem Friedhof, der rechts am Wegesrand lag. Oder links, abhängig davon, ob wir auf dem Hin- oder Rückweg waren. Wir beschossen arglose Fußgänger, schleuderten den Stiefel in die Fahrbahn wehrloser Radfahrer, die gottlob immer noch in letzter Sekunde ausweichen konnten. Der Stiefel flog natürlich auch mal auf die Straße, wo Autos ausweichen mussten. Es wurde natürlich – hey, wir lebten in Berlin – das ein oder andere Mal, sehr dezent, von den betroffenen Personen geflucht. Gut, manchmal war es weniger dezent. Ehrlicherweise mussten wir mehr als einmal die Beine in die Hand nehmen und die Flucht ergreifen. Und ich sage heute: absolut zurecht!
Wir schafften es aber immer wieder, den Stiefel wiederzufinden und ihn mit zurück zu nehmen. Zurück zur Hecke, zum Versteck. Der Stiefel wurde zum dritten Mann in unserer innig-freundschaftlichen Beziehung, wie ein stummer, weiser Ratgeber, der alles geduldig ertrug und die Sünden auf sich nehmen konnte, ohne uns anzuklagen. Der Stiefel war unser Freund, wie es später der Ball werden sollte, oder ein Verein, oder die faszinierende Sportart Fußball an sich.
Aber soweit dachten wir damals noch nicht. Wir waren erstmal damit zufrieden, wenn wir den Stiefel wie gewohnt aus seinem Versteck holen und ihn vor uns herkicken konnten. Obwohl wir ihn im Laufe der Jahre bei so ziemlich jedem Wetter auf so ziemlich jede Art und Weise traktiert und getreten hatten, war er nahezu unverwüstlich und zeigte kaum Abnutzungsspuren. Uns war klar: Dieser Stiefel würde immer unser treuer Begleiter sein.
Bis er eines Nachmittags einfach nicht mehr da war. Er lag einfach nicht mehr in der Hecke, da, wo er sonst immer zuverlässig wartend gelegen hatte. Der Stiefel, der merkwürdigerweise nie einen Namen bekommen hatte, war plötzlich fort. Wir haben nie herausgefunden – nicht an diesem Tag, und auch nicht später – wo er abgeblieben war. Welcher übereifrige BSR-Mitarbeiter ihn mitgenommen hatte. Oder welche Obdachlose nach Jahren seinen fehlen Stiefel wiedergefunden und mitgenommen hatte.
Was sollten wir also tun? Dann gingen wir halt ohne ihn zum „Clou“. Es ging natürlich auch. Es fehlte etwas, eine Lücke war gerissen, eine Leere war entstanden. Aber das Leben ging weiter, und irgendwann wurde es normal, einfach nur so, ohne das Treten eines Stiefels, die Straßen des Viertels entlangzulaufen. Wir lebten weiter und irgendwann merkten wir gar nicht mehr, dass da etwas fehlte.
Aber vergessen haben wir ihn nie, den Stiefel. Niemals. Bis zum heutigen Tage nicht. Ohne ihn wären wir nicht das, was wir heute sind. Was immer das heißen mag.
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