Das selbsternannte „Mutterland des Fußballs“ sieht sich traditionell auf Augenhöhe mit den anderen „großen Fußballnationen“ des Erdballs. Wie auch die Brasilianer müssen die Briten jedoch schmerzlich erfahren, dass sich die Hackordnung im Weltfußball verändert hat. Diese Erfahrung mach(t)en beide Teams längst nicht zum ersten Mal. Vom Elend der britischen und brasilianischen (Fußball-)Nation.
von Björn Leffler
Der Schreck in England war groß. Nicht etwa der Schreck über das Ausscheiden gegen den Fußballzwerg Island, sondern die bittere Erkenntnis, dass EM-Gastgeber Frankreich vollkommen mühelos über die wehr- und chancenlosen Isländer hinweggebügelt war und nun völlig verdient im Halbfinale der EURO 2016 steht, um dort Weltmeister Deutschland herauszufordern. Von einem 5:2 über Island war das englische Team Welten entfernt.
Fußball-England – und auch jene, die sich nicht am Fußballsport ergötzen – versinkt derzeit in tiefer Agonie. Noch vor wenigen Monaten wähnte sich das Land auf dem Weg zurück zu alter, sehr alter, fußballerischer Bedeutung. Ausschlaggebend dafür war eine lupenreine Qualifikationsrunde der Engländer für die anstehende EM, ohne auch nur einen einzigen Punkt abgegeben zu haben. Gegen Gegner wie Slowenien, Litauen oder San Marino.
Und zudem gab es, nicht zu vergessen, den in England als „historisch“ gefeierten 3:2-Sieg nach 0:2-Rückstand in einem Freundschaftsspiel gegen den Erzrivalen aus Deutschland, ausgerechnet in Berlin. „Ausgerechnet in Berlin“, dieser Zusatz wird in Großbritannien gern nochmal hinzugefügt, als stünden sich England und Deutschland noch immer auf irgendwelchen imaginären Schlachtfeldern gegenüber und als wäre Berlin eine schwer einnehmbare Bastion der „Krauts“. Das Schubladendenken ist in England offenbar doch noch sehr viel populärer, als es auf den ersten Blick scheint, was auch in den Monaten des „Brexit“-Wahlkampfes wieder sehr deutlich wurde.
Dass es sich bei diesem Testspiel im März letztlich um ein völlig bedeutungsloses Freundschaftsspiel handelte, welches in Deutschland maximal noch eine Debatte um die Stimmung bei den Heimspielen der deutschen Nationalmannschaft auslöste, ging in England im tosenden Jubel irgendwie unter. Weder die Niederlage gegen England noch das wenige Tage später überzeugend herausgespielte 4:1 der Deutschen gegen Italien gaben letztlich irgendeinen Aufschluss darüber, wie die drei involvierten Teams sich bei der Europameisterschaft in Frankreich wohl schlagen würden. Wie wir heute wissen.
Für England sollte es also nun endlich wieder nach oben gehen, schließlich traten die „Three Lions“ mit einer an Talenten reichen und taktisch gereiften Nationalelf an, die viele Experten zu den Favoriten auf den Titelgewinn zählten, unter anderem das ewig dem British Way of Football verfallene Fußballmagazin „11 Freunde“. Einen Finalsieg gegen Deutschland traute die Redaktion den Engländern zu, im Elfmeterschießen.
Während sich die deutsche Elf am Donnerstag im Halbfinale aber mit den wirklich schweren Brocken des Weltfußballs herumschlagen muss – Frankreich, in diesem Fall – reift in England, wieder einmal, aber dieses Mal noch intensiver als sonst, die bittere Erkenntnis, dass sich das Land selbst vollkommen im Abseits befindet. Nicht nur, weil sich das Fußballteam des Landes bei der Europameisterschaft quasi selbst geschlagen und aus dem Turnier gekegelt hat, sondern weil die britische Nation in den Nachwehen des „Brexit“-Volksentscheid im politischen Chaos versinkt und völlig offen ist, was auf die Briten in den kommenden Jahren zukommen wird. Und wer das Land überhaupt in die völlig unsichere Zukunft führen wird. Und, nicht unerheblich, ob es zum völligen Zerfall des Königreichs kommt, da die Schotten den Verbleib in der EU und damit die Abspaltung vom Vereinigten Königreich einfordern.
Was in Großbritannien aktuell politisch passiert, ist auf fußballerischer Ebene längst geschehen. Englands Nationalmannschaft hat sich auf internationaler Ebene längst in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet. Da das britische Volk sich aber noch immer als Erbengemeinschaft einer einstigen Weltmacht sieht und sich daher anderen Nationen gegenüber privilegiert fühlt, fällt es ihnen besonders schwer, die Realitäten des 21. Jahrhunderts anzuerkennen. Genauso, wie die Engländer derzeit nicht fassen können, dass sie mit dem „Brexit“ möglicherweise die Zerschlagung ihres einst ruhmreichen Königreiches eingeleitet haben, fällt es dem englischen Fußballverband und seinen Anhängern ebenso schwer, zu akzeptieren, dass die einst ruhmreiche englische Nationalmannschaft längst nur noch von ihrem einstigen Ruf und dem Markenzeichen „Mutterland des Fußballs“ lebt. In Wahrheit aber sind Nationen wie Portugal, Belgien oder – nach der am 14. Juli neu herauskommenden Weltrangliste – auch Wales längst an ihnen vorbeigezogen. Ja, Wales.
Aber ist das denn wirklich überraschend? Nein, ist es nicht. Zählte England in den 80er Jahren noch zum elitären Club der „großen Fußballnationen“, die sicher irgendwann auch mal wieder einen großen Titel holen würden, werden sie mittlerweile nur noch müde belächelt, vom großen Rest Europas oder der Welt. Noch in den 90er Jahren schauten Fußball-Experten und Fans in Deutschland ehrfürchtig auf die Insel, da die dortige Fußballkultur und der vorgetragene Fußball als aufregend und vorbildlich galten. Und die englische Nationalmannschaft war ein ernstzunehmender Konkurrent.
Bei der WM 1990 scheiterte das Team um Lineker und Gascoigne im Halbfinale nur knapp im Elfmeterschießen am späteren Weltmeister Deutschland, 1996 wiederholte sich das Drama bei der EM im eigenen Land. Seitdem aber kam England nie wieder über ein Viertelfinale bei einem großen Turnier hinaus. Seit über zwanzig Jahren also gelang England nicht ein einziges Mal der Sprung unter die letzten vier. Und einige Auftritte, wie zuletzt das Vorrunden-Aus bei der WM 2014, gerieten zum völligen Desaster. Für die EURO 2008 konnte sich das englische Team nicht einmal qualifizieren.
Ausgerechnet der ewige Erzfeind Deutschland, der den Engländern ja bereits ab Mitte der 70er Jahre zu enteilen begann, zeigt den Briten vor allem in den letzten zehn Jahren auf, wie gering ihre Bedeutung im europäischen oder gar im Weltfußball ist. Und wie dramatisch erfolglos sich sein Nationalteam von einem Turnier zum nächsten hangelt.
Während die deutsche Nationalmannschaft in den letzten zehn Jahren bei jedem (!) Turnier unter die letzten vier Mannschaften gelangte, dabei zwei Finalteilnahmen und den vierten Weltmeistertitel feiern konnte, durfte England jeweils nur zusehen. Während Deutschland in diesem Sommer um einen möglichen vierten EM-Stern spielt, hat England nach seinem Weltmeister-Titel aus dem Jahre 1966 nie wieder etwas gewonnen. Nicht einmal der Einzug in ein weiteres Endspiel – egal ob bei einer WM oder EM – war den Engländern gelungen. Und ganz bitter wurde es, wenn sie im Verlauf eines Turniers dann doch mal dem verhassten Rivalen in die Quere kamen. Der kegelte sie dann, wie im WM-Achtelfinale 2010, unsanft aus dem Turnier.
Aber auch die anderen europäischen Nationen sind längst an England vorbeigezogen. Ob dies Frankreich (WM-Titel 1998, Europameister 2000, Vize-Weltmeister 2006), Italien (Vize-Europameister 2000, Weltmeister 2006, Vize-Europameister 2012) oder Spanien (Weltmeister 2010, Europameister 2008 und 2012) ist: England kann die Erfolge dieser Nationen der letzten rund 20 Jahre nicht einmal ansatzweise aufweisen.
Dass England also längst nicht mehr zur Weltspitze gehört, muss den Briten seit langem klar sein. Allein, sie verdrängen diese Tatsache gern und konnten sich lange damit trösten, dass die englische Premier League immerhin die stärkste Vereinsliga der Welt war. Dies war auch für einige Jahre so, als die Weltauswahlen von der Insel einen europäischen Titel nach dem anderen abräumten. Dass die Premier League Teil des Problems der Nationalmannschaft war, wussten Viele im englischen Fußball. Aber der Rubel rollte, und so nahmen sie es hin. Der Rubel rollt noch immer, mehr denn je sogar. Nur leider gehören auch die Teams der Premier League mittlerweile nicht mehr zur europäischen Spitze, obwohl sie völlig maßlos mit Geld um sich schmeißen. Sportlich gesehen war der Finaleinzug des FC Liverpool ins Finale der Europa League in dieser Saison also einer der größten fußballerischen Erfolge Großbritanniens der letzten Jahre. Maßgeblich beeinflusst übrigens durch einen Deutschen, den charismatischen „Pöhler“ an der Seitenlinie: Jürgen Klopp.
Ähnlich erfolgreich wie in England ließ sich in Brasilien lange verdrängen, dass sich die „Selecao“ seit längerem auf dem absteigenden Ast befand. Nach dem fünften Weltmeistertitel bei der WM 2002 in Japan und Südkorea konnte das Nationalteam noch zwei bedeutende Titel erringen: 2004 und 2007 gewann die „Selecao“ die Copa America. Im Finale 2007 gelang sogar ein Sieg gegen den Erzrivalen aus Argentinien.
Bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland war für die überhebliche und völlig überalterte Truppe um Roberto Carlos und den übergewichtigen Ronaldo schon im Viertelfinale Schluss. Was in Brasilien dann vier Jahre als „Betriebsunfall“ verharmlost wurde, wiederholte sich 2010 bei der WM in Südafrika, als man an den starken Niederländern scheiterte. Weder 2006 noch 2010 hatten die Brasilianer zuvor für Furore gesorgt, es waren eher blutleere Auftritte, die folgerichtig mit dem Aus im Viertelfinale endeten, als das Team erstmals auf wirklich ernstzunehmende Gegner traf.
Zur Heim-WM 2014 sollte dies selbstverständlich alles anders werden, und ein ganzes Land verließ sich auf die heilsame Wirkung von Superstar Neymar. Nachdem Brasilien im Achtelfinale haarscharf an einem Aus gegen starke Chilenen vorbeigeschrammt war und im Viertelfinale mit viel Glück und Krampf die Hürde Kolumbien aus dem Weg geräumt werden konnte, erlebte die Fußballnation im Halbfinale gegen Deutschland eine nationale (Sport-)Katastrophe.
Das Ausscheiden war in seiner Form vielleicht historisch einmalig, wenn man es aber nüchtern betrachtet, fehlte auch dieser Spielergeneration schlicht und ergreifend das Talent und die Mentalität, einen großen Titel zu holen. Und es darf nicht vergessen werden, dass schon in den Jahren zuvor, als sich Fußball-Arbeiter Carlos Dunga als Nationaltrainer an der Mannschaft abmühte, die Bedenken außerhalb des Landes sehr groß waren, ob Brasilien im eigenen Land ernsthaft um den Titel würde mitspielen können. Nicht allerdings in Brasilien selbst. Die Lösung aller Probleme sollte das Engagement von Trainer-Rentner Luiz Felipe Scolari und Neymars Goldfüßchen sein. Und die Hilfe Gottes, natürlich.
Nun allerdings, nach dem desolaten Vorrunden-Aus bei der Copa 2016 in den U.S.A., bei der es Erzrivale Argentinien, selbst seit 1993 ohne bedeutenden Titel, ins Endspiel schaffte, brach in Brasilien plötzlich Empörung aus. Erst jetzt, als nicht der spätere Weltmeister Deutschland, sondern Teams wie Ecuador und Peru eine zu große Hürde darstellten, wird fast jedem in Brasilien klar, dass die Nationalmannschaft Welten von ihrem einstigen Niveau entfernt ist und im Grunde nur noch von ihrem guten Ruf lebt. Aber ähnlich wie in England muss auch hier die Frage erlaubt sein, warum dies erst jetzt geschieht. Die Bilanz Brasiliens bei den Copa-Turnieren der letzten Jahre ist verheerend. 2015 scheiterten die Brasilianer im Viertelfinale an der Auswahl Paraguays, genauso wie vier Jahre zuvor beim Turnier in Argentinien.
Mittlerweile räumen hochtalentierte Teams wie Kolumbien, Uruguay oder Chile die Copa-Titel in Serie ab. Argentinien und Brasilien scheinen auf ihrem eigenen Kontinent schleichend abgehängt worden zu sein, ohne dass sie es selbst bemerkt hätten. Während sich die Fußball-Nation England noch überwiegend von Schwergewichten wie Spanien, Frankreich oder Deutschland düpiert sieht, muss man sich in Brasilien eingestehen, dass Nationalmannschaften aus Mexiko, Paraguay oder Peru nicht mehr selbstverständlich geschlagen werden können. Derzeit kann sogar das „selbstverständlich“ gestrichen werden, denn es gelingt ihnen überhaupt nicht mehr.
Ähnlich wie England sieht sich auch Brasilien mit einer wirtschaftlichen und politischen Talfahrt konfrontiert, die im Falle Brasiliens sogar schon deutlich länger anhält und sehr viel dramatischer ist. Als dem Schwellenland vor einigen Jahren die Ausrichtung von Fußball-WM und Olympischen Spielen innerhalb von nur zwei Jahren zugesprochen wurden, gab es viele, die zweifelnd die Braue hoben. Während Brasilien ein famoser Gastgeber der Fußball-WM war und auch die Olympischen Spiele sicher mit viel Improvisationstalent und nationalen Anstrengungen über die Bühne bekommen wird, litt und leidet das Land unter einer der schwersten Rezessionen seit Jahrzehnten, was die Bevölkerung schon weit vor der WM auf die Straßen getrieben und schwere Unruhen provoziert hatte. Ohne Wirkung. Zu allem Überfluss ist die umstrittene Regierungschefin Rousseff derzeit in einen Korruptionsskandal verwickelt, der sie wohl ihr Amt kosten wird. Chaos allenthalben.
Die „Selecao“ nahm in der Vergangenheit oft die Rolle des tröstenden Elements einer viel zu oft darbenden Bevölkerung wahr, während sie mit ihrem schönen Spiel nicht nur die Fans in Brasilien sondern das Fußball-Publikum auf der ganzen Welt begeisterte. Es wäre gelogen, dies auch über die englische Nationalmannschaft zu behaupten, aber schaut man sich die Protagonisten vergangener Tage an – Gascoigne, Lineker, Shearer, Beckham – wird auch hier deutlich, woran es der aktuellen Generation fehlt.
In beiden Sportverbänden sollte die Zeit des Verdrängens nach Jahren und Jahrzehnten des sportlichen Abstiegs endlich vorbei sein. Es ist Zeit für ein Umdenken und eine völlige Neuausrichtung der Fußballverbände. Dass so etwas nicht mit Altinternationalen wie Luis Felipe Scolari oder Roy Hodgson gelingen kann, sollte ja auch deutlich geworden sein. Meint man jedenfalls.
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