Bolzplatzhelden

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Frühling

Ein Essay über die Zeit, als Siege und Niederlagen auf dem Bolzplatz noch wichtiger waren als Schulnoten, Freundschaften oder Besitztümer. Sogar sehr viel wichtiger.

von Björn Leffler

Ich sank auf die Knie. Es war aus. Das letzte Tor des Spiels, das entscheidende 9:10, war soeben gefallen, und Wut und Enttäuschung bahnten sich ihren Weg in meine Tränendrüsen. Dabei hatte es über lange Zeit des fast zweistündigen Ringens so gut ausgesehen. Mit der Bürde, den schwächsten meiner drei Cousins als Mitspieler in diesem Duell Zwei gegen Zwei auf furchendurchzogenem Großfeld akzeptiert zu haben, war ich skeptisch ins Spiel gegangen.

Die Kulisse – von Trostlosigkeit gezeichnete Plattenbaufassaden einer ostdeutschen Dorfgemeinschaft – hatte ein packendes Spiel zu sehen bekommen. Und beim Stande von 8:8 war ich nicht davor zurückgeschreckt, den in einer riesigen Drecklache liegengebliebenen Ball aus zwei Metern ins Tor zu dreschen – ganz zum Nachteil unser aller Jogginghosen und Nikkis.

Dennoch, am Ende war nur Leere. Mein übersprudelnder sportlicher Ehrgeiz, seit jeher mein größter Freund und Feind zugleich, verdarb mir eine bis dahin völlig unbeschwerte Jugendweihe-Party meines Vetters. Es war 1996, und es markierte den Beginn meiner Bolzplatzkarriere, die an Triumphen und Tragödien so reich war wie die letzten zwanzig Jahre Vereinsgeschichte von Werder Bremen.

Sobald ich nach zähem Beginn – die ersten fußballerischen Gehversuche unternahm ich allein, in den Straßen meiner Nordberliner Peripherie-Idylle – über fußballerisches Basiswissen und spielerische Fertigkeiten verfügte, begann ich, mich auf Kunst- oder Naturrasen, Schotter, Beton, Tartan oder Schulhofschlacke mit den Gleichaltrigen zu messen. Verlieren war überhaupt keine gedankliche Option. Es zählte nur der Sieg. Dabeisein – das war was für Loser. Spaß am Spiel? Nur im Falle des Sieges. Fairness gegenüber dem Gegner? Siehe vorheriger Satz.

Mein Siegeswille war so ausgeprägt, dass jede – leider nicht so seltene – Niederlage tiefschwere Enttäuschungen, stunden- oder tagelange Depressionen hervorrief. Abends lag ich im Bett und ging nochmal alle begangenen Fehler systematisch durch. Ich war schlaflos, rastlos.

Ich musste mich zu Beginn meiner Fußballleidenschaft erst daran gewöhnen – an die fausthiebartige Niedergeschlagenheit, die einen überkommen kann, wenn man realisiert, dass man nicht mehr gewinnen kann.

Als Borussia Dortmund 1995 im Halbfinale des UEFA-Cups, ersatzgeschwächt und von einem eindeutig antideutsch eingestellten Schiedsrichter benachteiligt, ausschied, konnte ich bis zum Schlusspfiff nicht fassen, dass das Spiel nicht mehr zu gewinnen war. Baggios Freistoß zum 1:2 hatte das Westfalenstadion verstummen lassen. Nach dem Abpfiff dauerte es nur wenige Sekunden – im Beisein meiner Eltern konnte ich die Tränen der Fassungslosigkeit abermals nicht halten – Ungerechtigkeit, Verschwörung, Weltuntergang. Es war mir peinlich, in meinem Pyjama sitzend. Er war hellblau. Nur an den Stellen, wo meine Tränen auf ihn tropften, färbte er sich dunkel.

Jahrelang prangte ein von mir höchstpersönlich verunstaltetes Bild von Alessandro Del Pierro an meiner Zimmertür. Gut, dass ich damals noch nicht wusste, dass einst Hertha BSC mein Herz erobern und es in den folgenden Jahren durch jede nur erdenkliche Gefühlshölle jagen würde.

Die jedoch wartete auch auf den Stätten zahlloser Gladiatorenkämpfe – buckelige und maulwurfshügelige Ackerplätze in der Niederlausitz und betonartige Kunstrasenbeläge im Reinickendorf-Weddinger Grenzstreifen.

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In den Duellen eins gegen eins oder zwei gegen zwei auf ein Tor ging es um nichts weniger als die Ehre. Mit unglaublicher Inbrunst wurde bis zur körperlichen und seelischen Totalverausgabung um das entscheidende Tor, den tödlichen Pass, den erlösenden Jubel gekämpft, gekratzt, gebissen, gegrätscht und getreten, als gäbe es kein Morgen mehr. Über eine etwaige Trivialität der gezeigten Leidenschaft dachte von uns – gefangen in zartpubertärer Frühphase und jugendlicher Unbeschwertheit – niemand nach. So wurde jede vergebene Chance theatralisch von in den Händen vergrabenen Gesichtern – oder bei spielentscheidendem Versagen – symbolischem Kniefall begleitet. Der Enttäuschung musste demonstrativ Ausdruck verliehen werden.

Aber von all dem konnte ich noch nichts wissen, als ich – noch lange nach der aufwühlenden Partie gegen meine Vettern – am Pfosten lehnend auf brandenburgische Wälder und die wärmende, untergehende Sonne blickte. Ich konnte nicht wissen, wie schwerwiegend die Enttäuschungen, wie präsent und hinderlich das sportbedingte Gefühlschaos sein würden.

Glücklicherweise wusste ich das nicht. In diesem Moment beschäftigte mich ein anderer Gedanke. Der Wille, besser zu werden, war nicht zu unterdrücken. Die Lust, eine Lederkugel am Fuß zu spüren, ebenso wenig.

Ich stand auf und fing an, das zu tun, was ich in den nächsten zehn Jahren meines Lebens hauptsächlich tun würde, wenn keine Mitspieler zu finden waren – ich spielte allein auf ein einsames, leeres Tor, Stunde um Stunde um Stunde.

Und ich genoss jeden einzelnen Moment.

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