Erster Teil unserer Autoren-Serie zur anstehenden Europameisterschaft. Den Beginn macht unser Gastautor Daniel Hasert mit seiner Erinnerung an das denkwürdige Halbfinale bei der EURO 2008 zwischen der Türkei und Deutschland.
Mit der deutschen Nationalmannschaft hat man in großen Turnieren schon allerhand erlebt. Am 25. Juni 2008 kam in Basel ein weiteres bedeutendes Erlebnis hinzu. Das Halbfinale Deutschland gegen die Türkei.
Beim letzten Aufeinandertreffen dieser beiden Mannschaften während eines internationalen Turniers sicherte sich Deutschland mit einem wichtigen und beeindruckenden 7:2 in Zürich während der Gruppenphase der WM 1954 den Einzug ins Viertelfinale. Der Ausgang dieses Turniers ist jedem bekannt – sei aber hier noch einmal in Erinnerung gerufen.
Nun, fast auf den Tag genau 54 Jahre später, war die Bedeutung sportlich und gesellschaftlich mindestens genauso groß, wenn nicht sogar noch größer. Wie auch beim letzten Aufeinandertreffen, wieder in der Schweiz, kämpften beide Mannschaften um den Einzug in die nächste Runde, diesmal um die Teilname am EM-Finale. Während Deutschland sich sehr mühevoll in dieses Halbfinale gequält hatte, schwammen die Kicker vom Bosporus auf einer Welle der Euphorie ob des bereits zu diesem Zeitpunkt erreichten größten Erfolges der eigenen EM-Geschichte.
Das ganze Land schaute auf dieses Match. Da war es – das große Aufeinandertreffen, das von allen herbei gesehnt worden war. Ein Spiel, das bereits vorher ein verbales und mediales Kräftemessen zwischen den Deutschlandanhängern und unseren türkischen Mitbürgern auslöste. Auch wenn manche Familienanhänger und Freunde davon abrieten, MUSSTE ich dieses bedeutende Spiel auf der Fanmeile sehen. Obwohl ein leichtes Magengrummeln ehrlicherweise nicht vollends abzustellen war, vertraute ich fest darauf, dass das langjährige Zusammenleben deutscher und türkischer Mitbürger dieses Fußballfest friedlich ausgehen lassen würde – unabhängig vom Endergebnis oder einem möglichen dramatischen Spielverlauf. Und WIE dramatisch es wurde!
Die erste Halbzeit spiegelte den bisherigen Turnierverlauf aus deutscher Sicht gut wieder. Die als Außenseiter in die Partie gegangenen Türken starteten Furios und stellten Deutschland vor arge Probleme. Während in der 13. Minute das Aluminium noch retten konnte, gingen die Mannen in rot nach 21 Minuten verdient in Führung. Der Schock bei mir saß tief, wurde jedoch zum Glück bereits vier Minuten später durch den Ausgleich von Bastian Schweinsteiger von Erleichterung abgelöst. Bereits nach dem ersten Drittel des Spiels kochte die Stimmung auf der Fanmeile zum ersten Mal über.
Das sportliche Drama in Hälfte Zwo kann nur noch durch ein weiteres Wort gesteigert werden – Bildausfall! Béla Rethy, eigentlich dafür bekannt, knifflige Situationen erst gefühlte Stunden später (und wahrscheinlich nach Hinweisen aus der Regie) zu erkennen, jubelte bereits über das 2:1 durch Klose in der 79. Minute, noch bevor die Zuschauer es mit eigenen Augen sehen konnten. Weil das mittlerweile vom schweizer Fernsehsender SF 1 ersatzweise genutzte Übertragungssignal langsamer war als die Telefonleitung zu Béla Rethy, kamen Bild und Ton zeitversetzt an.
So auch beim späten Ausgleich durch Sentürk in der 86. Minute. Ich verfolgte bangend das Bild und hoffte darauf, dass dieser vermutlich letzte Anlauf für den Ausgleich ins Leere gehen würde. Doch das immer noch schnellere Tonsignal ließ mich bereits die Ernüchterung voraus ahnen. Der Nackenschlag – kurz vor Ende. Von solch einem Nackenschlag erholt man sich nicht mehr. Gedanklich begann ich ein weiteres, schon zu oft in wichtigen Spielen meines Fandaseins eingetretenen Schreckensszenario zu erwarten.
Ich bäumte mich noch einmal auf und versuchte trotzdem die bereits stark erschöpften Kräfte für eine Verlängerung zu sammeln. Mein innerer Kampf zwischen Hoffen und Bangen ließ mich beinahe den Beginn einer der schönsten 89. Minuten der deutschen Turniergeschichte verpassen. Philip Lahm zog von außen ins Zentrum und schoss mich und die gesamte Fanmeile, nach einem traumhaften Doppelpass mit Thomas Hitzelsperger, in einen unbeschreiblichen Rausch aus Erleichterung, Wahnsinn und Euphorie!
Dieses überwältigende Gefühl wurde an diesem Abend noch einmal überboten. Was nach diesem Spiel passierte werde ich immer voller Anerkennung in Erinnerung behalten. Direkt von der Fanmeile zogen wir inmitten eines jubelnden Trosses über den Ku’damm.
Dort mischten sich in das Meer aus weißen Deutschland-Trikots größer und immer größer werdende rote Farbanteile. Die türkischen Fans, die eine derart dramatische Last-Minute-Niederlage einstecken mussten, erkannten sofort, was ihre Mannschaft sensationelles geleistet hatte.
Einen stolzeren und besseren Verlierer – nicht allein auf dem Platz, sondern auch auf den Straßen und in den Bars – habe ich nie zuvor gesehen. Gemeinsam wurde dieses Fußballfest auch nach Abpfiff weiter gefeiert. Die Leute umarmten sich, sangen, sprachen sich gegenseitig Respektsbekundungen aus und einigten sich auf ein gemeinsames nächstes Vorhaben – nun alle gemeinsam im Finale zum Titel.
Bis heute frage ich mich, ob auch wir deutschen Fans solch große Verlierer gewesen wären. Diese Frage lasse ich unbeantwortet und freue mich darüber, dass wir an diesem Abend alle eins waren – ein gemeinsames Volk von Gewinnern!
Schreibe einen Kommentar