Zum zweiten Mal in Folge hatte es mich gestern bei einem Deutschland-Spiel in einen Zug verschlagen. Da meine Bahn-Tickets nun schon seit Wochen und Monaten gebucht waren, wiederholte sich nun also die erst kürzlich erlebte Geschichte der Informationssperre auf Reisen ohne Internetverbindung. Ich stelle jedenfalls fest: Mein Pendler-Leben verträgt sich nur bedingt mit dem EM-Spielplan – zumindest hinsichtlich der deutschen Mannschaft. Letzten Donnerstag ging das Spiel Polen gegen Deutschland, welches ich im InterCity nach Berlin verbracht habe, notgedrungen komplett an mir vorbei, wodurch ich mich doch ein wenig überfordert fühlte, als ich kurz nach 23:00 Uhr am Berliner Hauptbahnhof in das abreisende Fanmeilen-Publikum geworfen wurde. Entgegen meiner entsprechenden Erwartung hinsichtlich einer geruhsamen Zugfahrt am gestrigen Abend stand nun im ICE auf einmal überraschend Fußball-Atmosphäre auf dem Programm.
18:19 Uhr: Am Berliner Ostbahnhof eingestiegen, warf ich einen kurzen Blick auf das laufende Spielgeschehen. Mein Smartphone gab aber die erforderlichen Daten nur schleppend wieder, so dass ich mich schon darauf einrichtete nur fragmentarisch über das Spiel der deutschen Mannschaft gegen Nord-Irland informiert zu sein. Am Berliner Hauptbahnhof eingefahren stieg dann jedoch ein Gruppe von Berufsschülern aus Kassel, die offenbar eine kaufmännische Ausbildung im Bereich Büromanagement anstreben, sowie eine größere Gruppe von Rentnern in den ICE nach Karlsruhe ein und die temporäre Fußballkolonne war geboren.
Entgegen der sonstigen Bestimmungen bei deutschen Zugfahrten, wo Ruhe das oberste Gut zu sein scheint, störte sich diesmal niemand daran, dass die Schüler mittels eines Handys und einer brüchigen Internetverbindung den Waggon beschallten. Noch bevor die Schüler ihre Gerätschaften aufbauen konnten, ging schon das erste Gerücht lautstark um – 1:0 für Deutschland – ein Elfmeter von Müller – so tönte es durch den Waggon. Einer der Rentner jubelte, eine Frau im besten Alter reckt die Arme in die Luft, ein weiterer Rentner schwenkte sein Deutschland-Fähnchen. Die Fan-Meile, die nur wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof liegt, färbte auf unseren Zug ab.
Nach und nach sickerte durch, dass es doch Mario Gomez war, der das Tor erzielt haben müsste. Auf einmal verschwand auch die Theorie des Elfmeters zugunsten eines Kopfballtores. Als dann die Internetverbindung wieder stand, freuten sich alle über die gerade eingeblendete Zeitlupe, die Aufschluss bot über die tatsächlichen Umstände des Tores. Daraufhin gab es technische Solidarisierung. Einer fragte freundlich nach, welche Technik notwendig sei, um auf seinem Tablet ebenfalls das Spiel sehen zu können. „Ich hab mir da so eine App heruntergeladen – die EM-App“. Berichtet eine Schülerin. Von nun an ist der Waggon voll im Fußballfieber.
„1:0 durch Gomez, Müller trifft Pfosten und Latte“ liest eine andere Passagierin hinter mir von ihrem Handy – „noch eine Minute, dann ist Halbzeit.“..sagt der nächste. „Egal, wenn wir was verpassen, wir sehen alle Szenen heute sowieso noch dreißig mal.“ kommentiert ein anderer.
18:47 Uhr. Die Halbzeit war nun auch im Zug angekommen. Wir verließen gerade Spandau und machten uns auf in die brandenburgisch-niedersächsische Einöde, die meist ohne Internetempfang auskommen muss. Die Minuten während der Halbzeit fühlten sich dabei schnell wieder an wie eine normale Zugfahrt. Nun traten die üblichen Gespräche auf, die sich um Abreise und Ankunft drehen, die gemachten Erfahrungen in Berlin und das Chaos der Deutschen Bahn, die im gestrigen Zug ihre Problemchen mit der Reservierungsanzeige hatte und damit ein mittelschweres Chaos ausgelöst hat.
18:52 Uhr kam dann die unweigerliche Ansage durch das Zugpersonal: – „Liebe Fußballfreunde, in der 31. Minute ist ein Tor für uns gefallen durch Mario Gomez. Es steht 1:0 für Deutschland.“ Applaus brandet kurz auf und wir überqueren die Havel. Kleine bissige Kommentare der technisch Versorgten wie „ein bißchen spät!“ gehören da natürlich zum guten Ton.
„Wie stehts bei Polen?“ … „0:0!“ …. „0:0 noch.“ „Bei Polen stehts 0:0.“ Die übliche Wiederholungswelle geht durch den Waggon. „Geht’s schon weiter?“ Die App der Schülerin funktionierte jedoch nicht mehr. Es war kurz vor 19:00 Uhr. Die freudige Anspannung stieg wieder. Zwischendrin dann ein wenig SmallTalk über CR7 und alte Weisheiten, dass der gefoulte Spieler nicht zum Elfmeter antreten dürfe. „Aber er musste natürlich…“ Geliebte Bissigkeit…
Beginn der zweiten Halbzeit. Die brandenburgische Landschaft verhinderte ein weiteres Verfolgen des Spiels. Nun beginnen die Gespräche, ob es sich lohnen würde, sich ein W-lan-Ticket bei der Deutschen Bahn zu sichern. Für funf Euro sei man dabei, aber ob das stabil ist? Als dann die Entscheidung dafür langsam fällt, verwundert die Erkenntnis, dass man nicht mal ins Telekom-Netz komme, um den Zugang zu kaufen. „Eigentlich müsste das umsonst sein im Zug… für jeden Anbieter“ fordert eine der Berufsschülerinnen aus Kassel. Nervös starren viele auf ihre Smartphones und warten auf Empfang oder Nachrichten von den Freunden vor den Fernsehern und Leinwänden zu hause.
Neue Alternative: Einer der Schüler ruft zuhause an und bittet seine Familie, das Spiel aufzuzeichnen. Da gebe es einen roten Knopf auf der Fernbedienung markiert mit einem „R…E…C“. Wir sind mittendrin in einer technischen Problemlösung zur Befriedigung eines akuten Interesses. „Hoffentlich wird das Spiel nicht so spannend!“ kommentiert der nächste mit Galgenhumor aufgrund des fehlenden Empfangs. Weiterhin wird auf die Smartphones gestarrt, auf denen aber nichts passiert. Internet, wo bist du, wenn man dich braucht? fragen sich jetzt wohl einige … Auf einmal eine Kinderstimme aus dem Handy eines Berufsschülers. Der versucht nun einen Live-Kommentar aus dem heimischen Wohnzimmer zu ergattern. Die Verbindung bricht jedoch ab.
Jetzt wäre ein guter Moment, um Gerüchte zu streuen, denke ich… Rote Karte für Müller wegen Entgleisung gegen den Schiedsrichter wäre so eine schöne destruktive Sache… Oder ein 1:1 durch den gerade eingewechselten Will Grigg, um Gesänge zu provozieren. … Verlockender Gedanke, ich halte mich aber aus guten Gründen zurück. Immerhin verbringe ich die nächsten zwei Stunden mit den meisten hier gemeinsam Zeit in einer Röhre. Wir passieren die Elbe.
„Hochgradige Chancen für Deutschland – aber kein Tor“ – Neue Informationen aus dem erstbesten Smartphone machen die Runde. Schürrle sei für irgendjemanden eingewechselt worden. Aufgrund der Abwesenheit des Spiels beginnen die Gespräche über die Tabelle in der Gruppe, das Torverhältnis im Vergleich zu den Polen und dem UEFA-Koeffizienten. So richtig schlüssig ist man sich zwar nicht, aber das müsse schon reichen. Der Fahrkarten-Kontrolleur waltet nun seines Amtes. Es ist 19:16 Uhr. Zumindest im Zug steht es noch 1:0 für Deutschland.
Die Kasseler Berufsschüler packen ihre Anekdoten aus. „Im ersten Spiel von Deutschland, ne? Da hat der Moderator gesagt, als Boateng geklärt hat, „Boteng klärt… Boteng klärt.“ Beantwortet wird dies mit einem stillen Kopfnicken und der Öffnung des Gesprächs zum nächsten Tisch: „Also ich habe 2:0 getippt. Ich habe 2:0 getippt.“ Typische Wiederholungsgespräche im Kontext des Fußballs. Ich fühle mich ebenfalls ertappt und frage mich, wie ich wohl konfus quatsche, wenn mein Lieblingsverein spielt. Weiterhin kein Empfang. Nächste Hoffnung Wolfsburg. Erste positive Konnotation, die mir zu dieser Stadt einfällt.
19:23 Uhr. Immer noch keine neuen Informationen im Umlauf. Im ganzen Waggon ungeduldiges Tippen auf den Aktualisierungsbefehl. … 19:26 Uhr. Der Fußball-Entzug hält an. Gespräche über die notwendige Verbindungstärke, um mehr Informationen zu erhalten branden auf. „Ich krieg keine Nachrichten. Das macht mich wahnsinnig“ lamentiert eine der Schülerinnen.
19:29 Uhr. Nächste Information: „69. Minute. Schweinsteiger kommt für Khedira.“ Ich wappne mich für kommende Schweinsteiger-Gespräche, aber es passiert erstmal nix dergleichen. Ich erblicke auf meinem Handy, dass Polen inzwischen führt. Dies spielt im Zug derzeit aber noch keine Rolle. Vielleicht sollte ich Informationen streuen? Ich konzentriere mich darauf, die Ohren zu spitzen…
Jetzt ein neues Gerücht. Boateng habe leichte Probleme und muss runter. „Macht nix, wechselt er Ballack ein!“ kommentiert der Nächste… Gelächter im Waggon… Nun die Information: 1:0 für Polen! Lewandowski sei es gewesen. Nervosität macht die Runde: „Ich brauch jetzt Bestätigung, dass wir führen. Ich brauch jetzt nicht hier negative Energie“ sagt eine Frau. Wir sind kurz davor Wolfsburg zu erreichen und die rettende Internetverbindung naht. Noch nie haben sich so viele Menschen gleichzeitig gefreut hier einen Zwischenhalt zu machen. „immer noch 1:0“ … „Polen auch!“… „Noch neun Minuten!“
Jetzt beginnen erneut die Gespräche ums Torverhältnis. „Es geht jetzt nur darum, ob sie 1. oder 2. werden.“ Ein Tag mehr Ruhe zwischen den Spielen sei doch vorteilhaft. „Egal, Hauptsache wir gewinnen und ich bin ausgeglichen“ sagt die Nächste, die offenbar aus Braunschweig kommt und nun ohne erkennbaren Grund Fußballgespräche über Düsseldorf und Gladbach führt.
„Fünf Minuten noch“ Die Spielzeit geht zur Neige, während wir den Wolfsburger Bahnhof verlassen. Auf einmal wieder ein laufendes Bild aus der App. Ein kleiner Freudenmoment. Gespannter Blick auf das Tablet. Von hinten tönt einer: „Heute abend sind auch noch zwei Spiele! Also gestern abend habe ich nicht mehr gekuckt.“ Die Verbindung bricht ab, wir verlassen den Wolfsburger „Stadtraum“, was wirklich viele traurig macht. Welch Ironie.
Kleine Fußballfachgespräche zwischendrin: „Hach, überlegen geführt, fast über 90 Minuten.“ … „Na ja, wenn du dann nicht triffst, dann ist es schade!“ … „Ja, dann kann es nochmal kippen.“ … „Aargh… jetzt würde ich gerne Kette rauchen. Meine beste Freundin nennt das panisches Rauchen.“ „Wär schlimm, wenn sie jetzt noch n Tor bekommen.“
Es ist 19:49 Uhr. Vor dem Fernseher würden jetzt viele mitfiebern. Im Zug ist langsam zufriedene Gewissheit eingekehrt. Die Internetverbindung ist eh nicht gut. Und nun auf einmal die Information: „Schluss! 1:0! … 1:0 … 1:0…“ wie eine Flutwelle geht die Nachricht durch den Waggon von hinten nach vorn. „Polen auch?“ „Ja, auch!“ Nun wird der Blick aufs Achtelfinale gerichtet: „Bin ja gespannt, wie sie das jetzt einordnen im Achtelfinale. Das begreift ja keiner!“ … „Ja, irgendeine Regel wird’s da schon geben.“ Vielleicht spiele der UEFA-Koeffizient nun wieder eine Rolle. Belgien sei sogar vor Deutschland und damit besser als der Weltmeister tönt der eine. Die Braunschweigerin antwortet mit einer kleinen klassischen Pöbel-Attacke: „Na das begreift ja eh keiner, was die UEFA da macht. Die sind ja genauso korrupt wie die FIFA.“ Wieder zurück zum Spiel triumphiert sie: „Das war mein Tipp. Es ist wie damals bei der WM. Als sie gegen die USA gespielt haben, da war ich auch im Zug. Damals haben sie 1:0 gewonnen, daher heute wieder.“ „Ja, das können sie jetzt ja erzählen!“ antwortet der Mitfahrer neben ihr.
Wir erreichen nun Braunschweig und die Leidensgemeinschaft spaltet sich auf. Zum Abschied wird nochmal der Sieg der deutschen Mannschaft gefeiert: Applaus brandet auf und der Zug hält im Bahnhof. „Haste dein Schirm, Heidi?“ – „Was fürn Schirm? Ein Sonnenschirm?“ mischt sich ein älterer Herr ein, während Heidi nickend ihren Schirm hochhält. Es ist 19:58 Uhr. Ab jetzt ist alles wieder normal bei der Deutschen Bahn.
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